Planschvergnügen und bunte Abende. Frau Doktor Fischer als Rainald Goetz, der sich 1983 beim Bachmannpreis die Stirn schlitzte.

Foto: Foto: Tex Rubinowitz, ORF Kärnten

Es lässt sich im Allgemeinen viel pointierter rügen als rühmen. Wie schön könnte man klagen über die Lesungen zum Bachmannpreis in Klagenfurt: Die Texte langweilig, die Jury zu brav, das Format veraltet - was ist das überhaupt für eine verschnarchte Angelegenheit?

Da sitzen seit 1977 jedes Jahr Literaturfuzzis im Halbkreis und profilieren sich auf Kosten der tapferen Autoren. Früher wurde da wenigstens noch geraucht. 2004 verfolgte ich den Wettbewerb zum ersten Mal im Fernsehen und im Internetforum "Wir höflichen Paparazzi", in der Fankurve für Wolfgang Herrndorf. Schon das war unverhofft spannend und vergnüglich. Im Jahr darauf flog ich hin, um's mal auszuprobieren. Und siehe da: In Klagenfurt ist immer Hochsommer, der See hat immer Badetemperatur, und alle, alle sind so schrecklich nett, die Juroren, Journalisten, Verleger, Lektoren, Agenten, Autoren und die Literaturtouristen.

Kaum in Klagenfurt angekommen, kullern Zahnrädchen aus der sonst gut geölten Nörgelmaschine, und irgendeine nichtstoffliche Droge aktiviert die Alles-super-finden-Areale im Gehirn. Man fängt an, Dinge zu sagen wie "Es geht sich aus", "heuer" und "der Bewerb". Hat jemals jemand etwas gegen den Literaturbetrieb gesagt? Oder gegen den Bewerb?

"Die Tage der deutschsprachigen Literatur" finden in Klagenfurt im ORF-Theater statt. Und im Fernsehen, auf 3sat. Und im Internet. Es gibt Menschen, die nehmen sich Urlaub für dieses Ereignis. Nicht überraschend, wenn sie zwischen den Lesungen in den türkisen Wörthersee springen können. Überraschender, wenn sie diese Tage zu Hause auf dem Sofa vertun, um tagelang redende Köpfe im Fernsehen anzuschauen. Ohne See, ohne Aperol Spritz vom Strandbadkiosk. Leute tun so etwas tatsächlich, wie Stichproben ergeben: Die einen schauen nur, wie meine Steuersachbearbeiterin, der Düsseldorfer Orgel-Professor, meine Mutter. Viele andere kommentieren dazu im Internet, aus Berlin, Frankfurt, Graz und anderswo.

Wie bei Champions-League-Spielen Hunderttausende von Fußballtrainern und Sportreportern vor dem Fernseher sitzen, findet man vor den Übertragungsgeräten überall im Sendegebiet nun wieder zahllose Literaturkritiker. Hat man das Pech, sich nicht für Sport zu interessieren, heißt das ja noch nicht, dass man nicht auch mal unter seinesgleichen fachsimpeln, jubeln und entsetzt aufstöhnen will.

Auch der einfache Trinker im Weinberg der Literatur will mal Literarisches Quartett spielen. Es gibt schon ein paar Möglichkeiten, auch übers Jahr Meinungen über Literatur abzugeben: Man kann Leserrezensionen bei Amazon verfassen, bei "Goodreads" im Internet Bücher bewerten oder Mitglied im Lesekreis der örtlichen Pfarrbücherei (Gruppe 4711) werden. Aber so gut wie nie lesen alle gleichzeitig in der gleichen Geschwindigkeit das gleiche Buch, und man müsste sich ja überhaupt erst mal finden und auf einen Text einigen.

Bei der Übertragung vom Bachmannpreis sehen alle das Gleiche zur gleichen Zeit. 25 Minuten Text, 25 Minuten Diskussion, der Nächste. Die Vorlagen stehen fest, die Juroren lassen sich beim Denken zuschauen und regen die Debatte an, man muss sich um nichts weiter kümmern. Literaturkritik findet statt. Mehr braucht es nicht, und fetziger oder poppiger muss es auch nicht sein.

Das Diskutieren im Internet begann vor etwa zehn Jahren in Blogs wie dem von Andrea Diener (gig.antville.org) und Foren wie "Wir höflichen Paparazzi". Heute findet es auch in Chats und auf Twitter (unter dem Hashtag #tddl) statt. Da wird schnell geschossen, aber doch meist nur mit Platzpatronen. Anfangs fand das eher im Séparée statt, der Literat blieb dem Internet fern, warum also nicht böse lustig draufhauen, tut doch keinem weh?

Das ist vorbei, immer mehr Kandidaten lesen oder diskutieren mit. Es könnte passieren, was die 27 Kandidaten des 4. Bachmann-Wettbewerbes 1980 gefordert haben: dass die Autoren mitdiskutieren dürfen (wenn sie denn wollen). Bei seinem eigenen Auftritt im Studio darf das übrigens jeder Kandidat, jede Kandidatin seit dem Jahr 1981 - es tut nur fast niemand. Ist ja auch, als würde der Torwart allein gegen die gegnerische Elf antreten.

Vor ihrem eigenen Auftritt im vorigen Jahr twitterte @frautravnicek: "Und jetzt bitte, vergesst alle eure Erwartungen, denen kann ja niemand mehr gerecht werden. #tddl". Cornelia Travnicek beteiligt sich schon seit 2010 über Twitter, Blog und Chat an den Diskussionen. In diesem Jahr treten als aktive Twitterinnen @anousch und @nadinekegele beim Bewerb an. Immer Anfang Juli trifft sich also in Klagenfurt und im Internet die wahrscheinlich größte Leserunde der Welt und kritisiert nicht nur die Texte, sondern auch die Juroren. Warum auch nicht, schließlich schrieb Rainald Goetz 2009 in loslabern: "... zur Bewertung von Literatur muss man keine Ahnung haben von gar nichts, es braucht nichts, nur Sprachgefühl und Menschenkenntnis, daraus wird Literaturkritik genauso wie Literatur gemacht, alles andere ist sekundär, und Tonnen von Spezialwissen können herrlich sein und Ödnis pur ..."

Jurorin Daniela Strigl findet, "ein bisschen Ahnung kann schon auch nicht schaden", und so bereichern die Profis aus der Jury die Diskussionen im Untergrund gelegentlich mit hilfreichen Hinweisen. Früher sei die Jury schärfer gewesen, hört man manchmal. Aber es will niemand riskieren, dass sich kein Autor mehr traut, hier anzutreten, und immer noch finden gelegentlich unschöne Schlachtungen statt. Alle anderen, Jury, Berichterstatter, Wichtigtuer, Publikum haben dagegen Party: Die "Tage deutschsprachiger Literatur" sind ein Kindergeburtstag mit Sesselkreisspielen, Planschvergnügen und bunten Torten.

Ein großer Spaß für alle - nur das Geburtstagskind, das seit Monaten darauf hinfiebert, versteckt sich weinend hinterm Baum, weil dann doch alles anders ist. Die Autorin, der Autor hat sich womöglich ziemlich lang mit dem Text beschäftigt. Und wenn es so weit ist, fällt eine halbe Stunde lang die ganze Gesellschaft darüber her, bis nur noch zerfetzte Luftschlangen übrig sind. Aber die Juroren verdienen ihr Geld auch woanders, und am Ende der zweieinhalb Lesungstage hat jeder mal dummes Zeug erzählt und jeder mal was Kluges gesagt, es bleibt nicht viel kleben.

Was der Kandidat erst später erfährt und dem Fernsehzuschauer verborgen bleibt: Wenn die Kameras aus sind, werden Trikots getauscht. Für Verbrüderungen gibt es zahlreiche Gelegenheiten: Der Bürgermeisterempfang im Loretto-Schloss etwa und das traditionelle Fußballspiel "Technik gegen Literatur", bei dem ein eingespieltes ORF-Team einen Haufen Literaten in Grund und Boden spielt.

Bachmann-Wettschwimmen

So wie Klagenfurt ins Netz diffundiert, bringt auch das Internet Neues nach Klagenfurt: Zum "Bachmann-Wettschwimmen" traten 2005 nur eine Handvoll Mitglieder des Forums "Wir höflichen Paparazzi" an, die ersten Sieger waren Tex Rubinowitz und Maik Novotny. Inzwischen will das niemand mehr verpassen. Wenn genug Schwimmfähige (Seepferdchenabzeichen genügt) im Strandbad Maria Loretto versammelt sind, zeigt jemand vage auf den See hinaus, um die Strecke zu markieren.

Die Siegerin (man nennt sie Wörtherseeforelle) bringt im nächsten Jahr einen Pokal mit. Seit der ORF nicht mehr auf Facebook aktiv sein darf, ist die "Bachmann-Wettschwimmen"-Seite dort das Forum für Vorfreude und Verabredungen zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur. Seit dem vorigen Jahr neu im offiziellen Programm ist das aberwitzig schwierige Quiz, der "Bachmann Song Contest" von Tex Rubinowitz und Maik Novotny am Samstagabend am Lendhafen.

Zum sechsten Mal wird in diesem Jahr der mit 500 Euro dotierte "Preis der Automatischen Literaturkritik" des Weblogs riesenmaschine.de vergeben. Vorstellungsvideo, Text und Vortrag werden anhand vorgefertigter Kriterien überprüft, in der Erwartung, spannende Texte eines Tages schon von weitem erkennen zu können. Die Kriterien werden in jedem Jahr nach den Erfahrungen überarbeitet, jeder kann dazu Vorschläge machen und Kathrin Passig bei der Auswertung helfen. Neu in diesem Jahr etwa der Daniela-Strigl-Minuspunkt für "Hühnerkopfabtrennungsliteratur". (Angela Leinen, Album, DER STANDARD, 29./30.6.2013)