In Österreich gilt das freie Mandat für Nationalratsmitglieder. In Artikel 56 der Bundesverfassung heißt es: "Die Mitglieder des Nationalrates und die Mitglieder des Bundesrates sind bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden." Theoretisch - praktisch gilt der Klubzwang beziehungsweise die Parteilinie. Oder das, was die Koalitionsräson gebietet.

Die Erfahrung, dass das unter Wolfgang Schüssel geltende ÖVP-Diktum "Hände falten, Gosch'n halten" auch in der SPÖ gilt, macht derzeit die Abgeordnete Sonja Ablinger. Sie hat bei der Abstimmung über den Fiskalpakt anders votiert als ihre Klubkollegen und dies auch begründet. Beim Votum über das Fremdenrechtspaket hat sie den Plenarsaal verlassen.

Dass Ablinger wegen eines nicht sicheren Listenplatzes um ihren Wiedereinzug in den Nationalrat zittern muss, hat mit ihrem Abstimmungsverhalten zu tun. Deutlich schreibt dies der damalige Sprecher des SPÖ-Vorsitzenden und Bundeskanzlers Viktor Klima, Josef Kalina, im Kurznachrichtendienst Twitter: "Politik funktioniert nicht ohne Loyalität und Mehrheitsfindung. Wer nichts mittragen kann, muss ja nicht Mandat übernehmen." Und: "Wer da nicht mit kann sollte konsequent sein und gehen da 'kein Mandat' im wahrsten Sinn des Wortes." Er meint, Ablinger sei bei der KPÖ oder der neuen linken Gruppierung Wandel eventuell besser aufgehoben.

Das ist eine klare Auskunft: Wer ein Mandat annimmt, muss sich der Parteilinie unterwerfen, sonst verstößt er oder sie gegen das Mandat der Partei - von wegen repräsentative Demokratie. Dabei steht eigentlich in der Verfassung, gleich in Artikel 1: "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus."

Offenbar sind nur Abnicker im Parlament erwünscht. Eigenes Denken oder gar Handeln ist nicht erwünscht. Wer sich allzu aufmüpfig verhält, fliegt raus - oder kommt nicht mehr ins Parlament rein. Diese Erfahrung machten in der SPÖ schon der Mandatar Walter Posch, der gegen die Fremdengesetze votierte, und der Europaabgeordnete Herbert Bösch. Seine Platzierung auf einen aussichtslosen Listenplatz bei der Europawahl 2009 wurde allgemein als Abstrafung für Böschs Kritik am EU-skeptischen Kurs von Bundeskanzler Werner Faymann gewertet. Nicht anders erging es dem langjährigen ÖVP-Abweichler Ferry Maier und dem in Brüssel anerkannten Europaabgeordneten der Grünen, Johannes Voggenhuber. Zu viel Kritik an der eigenen Partei schadet der Karriere.

Im Europaparlament stimmen Abgeordnete immer wieder anders als ihre Parteifreunde in Wien. In Straßburg und Brüssel gibt es den hierzulande bekannten Klubzwang in dieser Form nicht. In Deutschland kommt es sogar sehr häufig vor, dass nicht alle Abgeordneten einer Partei einheitlich abstimmen oder sich enthalten. Sie können sich explizit auf eine Gewissensentscheidung berufen, das ermöglicht ihnen das deutsche Grundgesetz, wo es in Artikel 38 über die Rolle von Abgeordneten heißt: "Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen." Ein Teil von ihnen ist auch per Direktwahl ins Parlament gekommen, nicht über die Liste einer Partei - das stärkt das Selbstbewusstsein.

In Österreich können sich Abgeordnete auf die Verfassung berufen. Aber sie sind Parteisoldaten, das ist die Realverfassung. (Alexandra Föderl-Schmid, DER STANDARD, 11.7.2013)