Kein Familienanschluss, keine freundlichen Nachbarn, Unterstützung nur vom Sozialzentrum: Maria A., einst Kolchosearbeiterin.

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Mancher Besucher der Republik Moldau merke von der großen Armut wenig, sagt Michael Zikeli: Wer sich unter den wenigen (Neu-)Reichen des Binnenstaates zwischen Rumänien und der Ukraine bewege, in deren Villen, Jeeps und Einkaufszentren, komme mit dem Elend breiter Schichten nicht in Kontakt.

Andere würden die Armut als Urtümlichkeit, ja Romantik missverstehen, weil Landschaft und Dörfer die Optik von vor Jahrzehnten bewahrt zu haben scheinen. Dabei sei das Ausmaß des Mangels in den oft windschiefen Häusern, inmitten eng bepflanzter Gemüsegärten, umgeben von oft unbewirtschafteten Obstpflanzungen, Wiesen und wuchernden Wäldern schlicht "bedrohlich".

"30 bis 40 Prozent der Bevölkerung kämpfen ums nackte Überleben, um genug zu essen und, im Winter, um zu heizen", schildert Zikeli (52), der seit Jänner 2013 neben seiner Lebensgefährtin Bettina Schörgenhofer (38) Länderverantwortlicher des Sozialprojekts Concordia in Moldau ist. Viele, vor allem Alte, würden den Kampf verlieren: "Ich bin überzeugt, dass viele verhungern oder erfrieren, auch wenn es auf den Totenscheinen so nicht steht", meint der gebürtige Rumäniendeutsche.

Im Sozialzentrum

Einen Eindruck der Situation kann man in der 6500-Einwohner-Gemeinde Dubassarii Vechi gewinnen. Hier betreibt das vom Jesuitenpater Georg Sporschill gegründete, vom Industriellen Hans Peter Haselsteiner unterstützte Projekt ein Sozialzentrum; eines von landesweit elf: ein Einstockgebäude mit Küche und Speisesaal, Bade- und sechs Doppelzimmern zum Wohnen.

Maria A. (78), einst Arbeiterin in der örtlichen Kolchose, lebt nicht im Zentrum: "Sie hat noch ein Dach über dem Kopf. Wir müssen Prioritäten setzen", sagt Betreuerin Anna Antoz. Das Haus der alten Frau, an einer nicht asphaltierten Straße gelegen, hat unterm Giebel einen kleinen Holzbalkon; morsch geworden hängt er vornüber. Fließendes Wasser und Kanalisation gibt es nicht. Derlei Segnungen haben es in die Dörfer Moldaus weder unter Sowjetherrschaft noch seit der Unabhängigkeit geschafft.

Im Haus riecht es nach Urin. Maria A. sitzt auf ihrem Bett, der Körper abgezehrt, das Gesicht fahl, der Blick umherirrend. Das Bett, eine Kommode, ein Tisch, ein Ofen, an der Wand eine kleine Ikone: Mehr ist nicht im Raum. Die Leute vom Zentrum, erzählt Antoz, seien die Einzigen, die sich um die alte Frau kümmerten, ihr aus der Suppenküche - eine von 50 Concordia-Gratisausspeisungen in Moldau - Essen brächten. Die Nachbarn verachteten sie, denn ihr Sohn sei in Haft.

Tatsächlich schweiße das verbreitete Elend die Menschen nicht zusammen, weiß Zikeli. Ressentiments und Misstrauen blieben unverändert bestehen. Wer könne, gehe weg: Männer als Saisonarbeiter am Bau nach Russland, Frauen schwarz in die EU, als Putzfrauen oder um dort Alte zu pflegen, wofür deren Kinder aufgrund steigender Arbeitsbelastung wiederum keine Zeit haben.

Zurück blieben die Verlierer dieser grenzüberschreitenden Arbeitsteilung: Moldaus Alte und Kinder, verlassen und auf sich allein gestellt. So wie die kleine Nina (3) - auch wenn man angesichts des verschmitzt lächelnden Mädchens an Tragisches nicht denken mag.

Nina steht in der Tür zur Krankenstation der von Concordia betriebenen Stadt der Kinder in Pirita. Ihr Gesicht und ihre Arme sind mit grünen Flecken übersät, von einem Mittel gegen Juckreiz bei Feuchtblattern, von denen sie sich gerade erholt. Petr (10) besucht sie mehrmals täglich. Er fühlt sich für Nina verantwortlich, denn er ist ihr großer Bruder: der Älteste von vier Geschwistern, die drei Monate ohne jede Hilfe überlebt haben.

Vier Kinder allein zu Haus

"Der Vater der vier ist unbekannt. Vor einem Jahr ist die Mutter nach Russland gegangen, um zu arbeiten. Die Kinder hat sie bei ihrer Mutter zurückgelassen", erzählt Concordia-Landesverantwortliche Schörgenhofer. Das ging nicht lange gut. Die Großmutter starb, und die Mutter kam trotzdem nicht aus Russland zurück. Also blieben die Kinder nach dem Begräbnis allein im Haus. Ein - damals - Neun- und ein Sechsjähriger, eine Vier- und eine Zweijährige, von Oktober bis Jänner, die sich in Suppenküchen und mittels Diebstählen verköstigten.

Dann brannte es im Haus, und das Jugendamt wurde aufmerksam. Die Geschwister kamen in die Stadt der Kinder, wo, finanziert von Haselsteiner und anderen Spendern, in elf Häusern rund 250 Elternlose und De-facto-Waisen leben.

Im ganzen Land gebe es ihrer zehntausende, sagt Schörgenhofer: Die fortgeschrittene Verarmung ohne wirkliche Besserungsaussichten, unter anderem wegen des Transnistrienkonflikts, habe die sozialen Strukturen vielfach zerstört. Doch nicht alle, die könnten, wählen den Weg der Auswanderung. Pavel P. (37) (Name geändert), hat sich nach einer Saison als Bauarbeiter in Russland für ein Leben in der Heimat entschieden. "Ich will nicht, dass meine Familie zugrunde geht", sagt der Vater zweier Kinder, der einen Uni-Abschluss in Ingenieurswissenschaften hat.

Der Preis fürs Dableiben ist hoch: P. arbeitet in einem Sozialprojekt, werktags von neun bis 17 Uhr. Dann kommt er nach Hause - und arbeitet bis spätnachts weiter. Im Garten rund um sein Haus züchtet er Glashausgurken und -paradeiser. Zweimal pro Woche macht er sich morgens um halb vier Uhr mit einem Wagen auf, um die Ernte am Markt von Chişinau Großhändlern zu verkaufen. Er und zwei Freunde wechseln sich dabei ab.

Ohne den Zweitberuf als Gemüsebauer käme die Familie nicht über die Runden, rechnet Pavel P. vor. Sein Gehalt und jenes seiner Frau - auch sie hat einen Fulltimejob - reichten knapp für Betriebskosten und Heizung. Wie P. gehe es in Moldau "einem guten Drittel aller Menschen, jenen, die Jobs haben", sagt Concordia-Mann Zikeli. Bei Durchschnittsgehältern von rund 150 Euro monatlich, mit gleichzeitig fast westlichen Preisen gebe es zur "Arbeit bis zum Umfallen" keine Alternative. (Irene Brickner, DER STANDARD, 23.7.2013)