Es wäre unlauter, das Unbehagen an der modernen Kunst zu leugnen. Sogar ihre geschworenen Parteigänger erkennen den Erklärungsbedarf, den viele ihrer Erzeugnisse auf sich ziehen. Die Pointe von Rudolf Burgers Aufsatz Die Heuchelei in der Kunst (1999) lag in der Umkehrung der polemischen Stoßrichtung.

Burgers Ansicht nach sind nicht mehr die Bildungsbürger die Dummen, wenn sie etwas nicht verstehen. Die Kunst selbst widersetzt sich dem spontanen Erleben. Hochmütig weist sie alle Versuche zurück, durch sinnliche Erfahrung dem Betrachter ihren Wahrheitsgehalt preiszugeben.

Burger geht noch ein paar Schritte weiter. Seine Abrechnung mit der Kommentierungswut äußert sich als Verdacht, den er gegen die Ästhetik und letztlich gegen die Kunst im Allgemeinen richtet. Mit der Feier des Schönen ist es seit der Aufklärung nicht mehr getan. In jedem Kunstwerk solle sich so etwas wie "Wahrheit" zeigen – wobei niemand zu sagen imstande wäre, woran sich ein solcher Anspruch bemisst.

Wessen Hand vor 250 Jahren nicht mehr den Weg zum Weihwasserbecken fand, der griff zum Artefakt. Dadurch sei die Kunst "zum Auffangbecken" einer "unverbindlichen Residualtranszendenz für höhere Töchter beiderlei Geschlechts" geworden. Die Kunst an der Schwelle zur Moderne habe sich ihren Sinn erschlichen. Wer sich mit ihr zu beschäftigen trachtete, hatte sie zuallererst zu "verstehen". Von nun an fungierte das Kunstwerk als Medium der Selbsterkenntnis. Es warf das betrachtende Subjekt unweigerlich auf sich selbst zurück.

Seitdem erfordert "die Tradition des Neuen" aber auch einen Daueraufenthalt in der Rüstkammer der Theorie. Erkenntnis gewinnt nicht derjenige, der sich besonders eingehend in die Betrachtung eines Kunstwerk vertieft. Der heutige Connaisseur sammelt nicht visuelle, sondern konzeptuelle Erfahrungen. Das Zeitalter des Beipackzettels verdrängt das Altertum mit seiner mühsamen Entzifferung von Form und Bildinhalt.

Man kann Burgers Herleitung von Malewitschs Schwarzem Quadrat auf weißem Grund getrost beiseiteschieben. Dem mittlerweile emeritierten Rektor der Wiener Universität für angewandte Kunst liegt nicht daran, im klitzekleinsten Detail recht zu behalten. Der von ihm geführte Schlag ist wütender: Er soll die Schwätzer treffen, noch mehr aber diejenigen, die das Theorie-Gerede erdulden.

Denn in Wahrheit habe die bildende Kunst niemals aufgehört, mimetisch, das heißt: abbildend zu sein. Sie habe nur in der Moderne die Mimesis der Natur durch eine von "Ideen" ersetzt. Durch die rastlose Erweiterung ihrer Zuständigkeits­bereichs ist sie alles und nichts zugleich geworden. Erst habe man sie von ihren Bildinhalten befreit und zur "reinen Kunst" gemacht. Jetzt sei sie in einen See von Wörtern eingetaucht: "Nur ihre Begleitrhetorik hält sie als Kunst über Wasser." (Burger)

Das Anschwellen der Rhetorik hat folgerichtig zu einer Entgrenzung der Künste geführt. Indem der Künstler für alles als zuständig erklärt wird, darf er in einer restlos säkularisierten Gesellschaft die Rolle des Schamanen bekleiden.

Dabei können die bildenden Künste nur nachträglich illustrieren, was der Zeitgeist ihnen eingibt. Kreativität sei nur "unter Gesetzen möglich, die das Subjekt sich selber gibt" oder die es als äußerliche anerkennt. Alles andere sei Verwahrlosung. Es folgt der verblüffendste Satz: "Was war der 'Aktionismus' denn anderes als die öffentliche Inszenierung schlechter Manieren in bis dahin noch kunstfreien Zonen?"

Bleiben wird Burgers Einsicht in die potenzielle Trostlosigkeit der Kulturindustrie. Die Nach-Kunst sei zur Superkunst mutiert. Weil es um nichts mehr geht, sei alles möglich. Lukrativ sei der kritische Gestus. Burger: "Die Freizeit nimmt zu und die Leute wollen unterhalten werden, und zum Spiel gehört auch das Spiel des Ernstes. Deshalb tut man so, als ob man an den Ernst der Kunst noch glaubte. Aber nur zum Spaß." (Ronald Pohl, DER STANDARD, 24.7.2013)