Foto: Aufbau-Verlag

Im Anfang sind zwei der Hauptpersonen tot. Am Ende fast alle übrigen auch, erschossen, verscharrt, aus dem Flugzeug geworfen. Oder sie sind dem Wahnsinn verfallen. Und: Der Erzähler ist eine Stimme aus dem Jenseits.

Paitanás, ein Nest in der nordchilenischen Atacama-Wüste, Abbaugebiet von Salpeter. Deshalb werden dorthin auch in den 1930er-Jahren Arme aus der Pampa hingekarrt, die sofort in starke Abhängigkeit von den ausbeuterischen Unternehmern geraten und sich bis zur Besinnungslosigkeit abrackern. Ein lüsterner und geldgieriger Pfaffe, der edle Bandit Sofanor, zugleich des Erzählers bester Freund, und dessen Geliebte, eine distinguierte, nach romantischen Abenteuern süchtige Engländerin, genannt die Inglesa, dazu ein gewalttätiger rachsüchtiger Polizist in zweiter Generation, eine grell geschminkte alternde Vettel und Pensionswirtin, ein riesiges Mannweib, Arbeiter, die täglich überlang hart arbeiten und nachts all ihr Geld für Alkohol und Huren mit goldenen Herzen ausgeben. Und eine Bordellbar namens Arche Noah, die der Erzähler Samu 36 Jahre lang, bis in die frühen 1970er-Jahre, in Paitanás betreibt.

Dies klingt wie einem Musterschnittbogen des lateinamerikanischen magischen Realismus entnommen. Doch Rodrigo Díaz Cortez, 1977 in Santiago de Chile geboren und heute in Barcelona lebend, macht in seinem dritten Roman, seinem ersten Buch in deutscher Übersetzung, etwas Eigenständiges daraus, etwas Beeindruckendes, starke Prosa mit starken Bildern.

Fast fünf Jahrzehnte Historie und Historien, große Gefühle wie grausame Zeitgeschichte, das Wüten des Pinochet-Regimes, bringt Díaz Cortez auf, verglichen etwa mit Epopöen eines José Lezama Lima oder Jesus Diaz, den Romanen des frühen Mario Vargas Llosa oder von Díaz' Landsmann Roberto Bolaño, der als Mottogeber dient, auf verhältnismäßig wenig Platz unter.

Raffiniert ist die Erzählposition. Samu, der Gutgläubige, der leicht Naive, eben "der mieseste aller Krieger", diktiert aus dem Jenseits seinem Enkel Benito, der sofort nach der Geburt seiner Mutter Tita weggenommen wurde, die Samu einst adoptiert hatte, die als Studentin den charismatischen linken Studentenführer Carmelo kennenlernte, sich in ihn verliebte und 1974 so wie er und tausende Oppositionelle auch gefoltert und erschossen wird, einem Journalisten und Schriftsteller auf der Suche nach Stoff, seine Geschichte in den Block, unhörbar.

Mutet die erste Hälfte noch scheinbar heldenromantisch an, so überführt Díaz Cortez sachte seine Schilderung in die immer grausamer werdende Gegenwart, bis in die brutale Willkür- und Mordherrschaft des Pinochet-Regimes. Der Erzählfaden färbt sich immer blutiger; und die Details verlieren ihre Überzeichnung. Wer die Wahrheit präsentiert, dies zumindest beabsichtigt, ist ironischerweise ausgerechnet der gutgläubige Samu. Und doch geht so manches Rätsel am Ende nicht auf. Ein starkes Buch. Ein ganz bemerkenswerter junger Autor.   (Alexander Kluy, Album, DER STANDARD, 7./8.9.2013)