Kommende Woche werden in Wien 100.000 Exemplare seines Romans "América" in Wien gratis verteilt: T. C. Boyle.

Foto: STANDARD / Robert Newald

Der Pioniergeist spielt in Erzählungen aus der amerikanischen Geschichte eine wesentliche Rolle. Sie berichten von Landnahme, von hartnäckigen Bestrebungen, die "Frontier" immer weiter nach Westen zu verschieben, von Ermächtigung und Unterdrückung. Sie schildern schier unvorstellbar harte Lebensbedingungen und lassen auch einen Unterton von der möglichen Idylle in Natur und Abgeschiedenheit mitschwingen.

Dieses Grundmuster verbindet T. Coraghessan Boyle, einer der großen Erzähler der Gegenwart, in seinem neuen Roman San Miguel mit dem Topos der einsamen Insel, um eine amerikanische Saga zu bieten. Dabei stellt er der gängigen Männerperspektive in dieser Männerwelt drei Frauenfiguren gegenüber und lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass es kaum um Idyllen, sondern vielmehr um Mühsal geht. Diesen Ton gibt Boyles präziser, angemessener Stil, auch in der gelungenen Übersetzung, mit dem ersten Satz an: "Sie hustete, immer hustete sie, und manchmal hustete sie Blut."

Marantha leidet an Schwindsucht, mit ihrem Mann Will Waters, einem Veteranen des Bürgerkriegs, und ihrer schönen vierzehnjährigen Adoptivtochter Edith kommt sie zu Neujahr 1888 auf San Miguel, die kleine Insel im kalifornischen Kanal vor Santa Barbara. Was man ihr als Wohltat der Natur, somit als Ort der Genesung ausgemalt hat, erweist sich als Stätte der Entbehrung und der Mühsal, des Schmutzes und der Sandplage, des Nebels und der Regengüsse.

Nirgends ein Baum, überall schroffe Kälte und Wind; keine Spur von Behaglichkeit, sondern ein völlig unwirtliches Haus voller Nässe und Mäuse. Und tausende Schafe, deren Wolle die einzige Einnahmequelle ist. Keine Rede von Inselromantik, sondern Einsamkeit und Monotonie - und ein Familiendrama, das mit Ediths Geschichte im zweiten Teil des Romans seinen Höhepunkt erreicht: Sie sehnt sich nach dem aufregenden Leben in San Francisco, der tyrannische Stiefvater hält sie jedoch auf San Miguel fest.

Die dritte Frau betritt die karge Insel ihres Schicksals Jahrzehnte später. Elise Lester war Bibliothekarin in New York, während der großen Wirtschaftskrise landet sie mit ihrem Mann Herbie - auch er ein Kriegsveteran - auf San Miguel. Hier erlebt sie zunächst ihr Glück, zieht sie zwei Töchter auf; und die Familie erlangt sogar mediale Berühmtheit, da sie dem Publikum in den bewegten Zeiten einen natürlichen Fluchtort vorführt. Je mehr man aber auf die Vierzigerjahre und auf Pearl Harbour zusteuert, umso mehr feine Risse und schließlich Brüche beeinträchtigen die vermeintliche Abgeschiedenheit von den Kämpfen der Welt.

Es ist stets faszinierend, wie T. C. Boyle seine Erzählungen gestaltet; die tolle Konstruktion seines Meisterwerks América erreicht er allerdings mit San Miguel nicht. Er hält sich nah an Geschichte und Chronologie der historischen Vorbilder, dadurch wirkt allerdings seine Gestaltungskraft etwas eingeschränkt. Er führt drei Frauenporträts sowie eine topografische Hauptfigur, San Miguel, plastisch vor Augen.

Insel und Familie sind geschlossene Räume. Die Männer patrouillieren, die Frauen sind häuslich. Inmitten der unangenehmen Männerwelt draußen ist kein Platz für Romantik, die Sehnsüchte bleiben im Inneren. So projizieren sich die drei Frauen ihre Gegenbilder. Marantha erinnert sich ständig an die behagliche Bürgerlichkeit ihres früheren Lebens; Edith sieht sich als Schauspielerin, indes wird ihr die Insel zur Gefängnisfestung gemacht; Elise sucht krampfhaft ihr Paradies der Menschlichkeit zu wahren, während rundum gewaltsam aufzieht, was sich in der Gewehrsammlung ihres Mannes motivisch ankündigt.

Dieser dritte Teil ist es, den Boyle wohl als Ansatz einer besseren Inselerfahrung zeichnen möchte - allerdings plätschert er über einige Strecken idyllisierend dahin. "In jenem Jahr war das Weihnachtsfest ein Wunder", heißt es, und es folgt die Erklärung des "irgendwie erstaunlichen" Phänomens: "Sie erlangten Bekanntheit, nur weil sie die Luft eines Ortes atmeten, der die Phantasie beflügelte, sie waren bereits dabei, sich in den Mythos zu verwandeln, der später von der Presse propagiert wurde: Elise die unerschrockene, treu sorgende Frau, die auf einem simplen Holzofen Gourmetmenüs kochte, Herbie der verwundete Kriegsveteran, der sich von der Gesellschaft zurückgezogen hatte."

Die moderne Technik kommt mit Flugzeug, Grammofon, Radio auf die Insel, und die Spannung der abgeschiedenen Lebensform sowie der Erzählung verflacht. Zwar hängt alles noch einmal an einer Klippe, knapp am Abgrund, dennoch erscheint dieser Teil, der wie der erste mit dem Kapitel "Ankunft" beginnt und mit "Abreise" endet, zu vorhersehbar. So entwickelt der Roman letztlich weder die gesellschaftlichen Einsichten noch den Sog der Unweigerlichkeit, den Boyle in América zu gestalten gewusst hat, wo er zugleich eine treffende Diagnose der heutigen USA schuf. Eine Lektüreempfehlung ist T. C. Boyle freilich allemal wert.    (Klaus Zeyringer, Album, DER STANDARD, 7./8.9.2013)