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"Wir mögen als Literaten in die Defensive geraten sein - aber unsereins kann nicht anders, wir kämpfen weiter": Leopold Federmair.

Foto: APA/ALEXANDER GOLSER

Mit zwei im Album veröffentlichten Texten über Missbrauchsfälle, Homosexualität und Machtmissbrauch im Stiftsgymnasium Kremsmünster (publiziert am 21.4.2012) sowie das in seiner japanischen Wahlheimat allgegenwärtige Thema "Sexual Harassment" (3.11.2012) löste Leopold Federmair vergangenes Jahr heftige Debatten aus. Beide Themen und Texte reflektiert der 1957 geborene Autor, Essayist und Übersetzer auch in den beiden soeben erschienen Büchern Das rote Sofa. Geschichten von Schande und Scham (Otto Müller) und Die großen und die kleinen Brüder. Japanische Betrachtungen. (Klever).

STANDARD: Waren Sie über die Heftigkeit der Diskussion in den Onlineforen erstaunt?

Federmair: Im ersten Moment schon, ich hatte noch nicht viel Erfahrung in diesen Dingen und unterschätzte das offenbar bestehende Bedürfnis sich auf diesen Plattformen zu äußern. Damals war ich überrascht. Heute bin ich es nicht mehr. Insgesamt hat die Debatte bei mir aber Denkprozesse – auch über Erzählmöglichkeiten - in Gang gesetzt und  Erinnerungen geweckt. Besagte Diskussionen sind in das Buch eingegangen und haben dazu beigetragen, dass es so geworden ist, wie es nun ist. Seltsam finde ich immer noch den Vorwurf, den ja nicht nur anonyme Poster geäußert haben, ich würde nicht zwischen Pädophilie und Homosexualität unterscheiden. Natürlich tue ich das, man kann es in meinem Buch nachprüfen. Was mich immer noch schockiert, ist die Weigerung vieler Menschen, sich überhaupt mit Phänomenen wie Pädophilie auseinanderzusetzten. Man will diese Leute einfach wegsperren. Deshalb habe ich in das Buch eine Figur wie den pädophilen Schwulen Pier Paolo Pasolini eingeführt.

STANDARD: Autoren bewegen sich, wie Sie im Buch schreiben, zwischen den Polen Enthüllen und Verbergen. Ist Ihnen die Offenheit, gerade was jugendliche Sexualität betrifft, schwer gefallen?

Federmair: Es fällt mir immer wieder schwer, diese Dinge darzustellen. Und ja, es gibt ein exhibitionistisches Moment in dieser Art zu schreiben. Trotzdem ist es nicht einfach, denn es geht um Widerstände, die nur zum Teil von außen her rühren, sondern tief verinnerlicht sind. Hier kommt das Wort Scham ins Spiel. Ein Sinn meiner Art zu schreiben besteht darin, diese Scham wegzuschieben. Auch um zu sehen, was passiert, wenn man die Schleier der Scham, die durchaus auch notwendig sind, lüftet. Was nicht heißt, dass ich diese Schleier zerfetzen möchte, denn gleichzeitig schreibe ich auch um bestimmte Punkte herum, die in meiner Biographie wichtig waren und tabu bleiben, sozusagen unsagbar. Trotzdem sind diese Punkte, oft  Schmerzpunkte, im Hintergrund da. Wenn dem so ist, kann eine Spannung, eine Energie entstehen, die sich ästhetisch umsetzt.

STANDARD: Scham, um zu Ihrem zweiten Buch zu kommen, spielt auch in Japan eine Rolle. Kollektiv und individuell.

Federmair: Scham ist immer kollektiv mitbedingt. Wenn es nicht eine Gesellschaft gibt, die etwas erwartet, kontrolliert und beobachtet, entsteht auch keine individuelle Scham. Japan ist eine sehr soziale Gesellschaft - und zwar im Guten und im Schlechten. Eine Gesellschaft, in der das große Ganze, die Gruppe, eine dominante Rolle spielt und das Individuum einschränkt. Soziologen unterscheiden eine  Kultur der Scham und der Schuld. Einerseits sind in Japan die Schuldgefühle nicht so stark ausgeprägt wie bei uns, andererseits gibt es unendlic h viele schambesetzte Situationen, zum Beispiel Essen oder Lachen. Wenn ein Fehler passiert ist, etwa in Fukushima, sagt man Entschuldigung und geht zum nächsten Punkt über. Wenn es ein großes Problem gab, verneigt man sich eine Minute lang. Damit ist das erledigt. Wenn man dieser Form nicht genügt und nicht Entschuldigung sagt, wird das sehr schief angeschaut, es kann zu einer Entlassung auch von hohen Kadern führen. Es geht aber nicht um ein Schuldgefühl in unserem Sinn, die Leute fühlen sich nicht individuell getroffen. Bei uns herrscht eher die Schuldorientierung. Man kann Schuld, vor allem im Katholizismus, abtragen und abarbeiten. Das funktioniert in Japan anders.

STANDARD: In Gesellschaft, Schule und Familie geht es immer auch um Macht. Ist diese in Japan anders definiert?

Federmair: Es gibt in der japanischen Gesellschaft eine starke Trennungen zwischen den verschiedenen Bereichen. Arbeit und Familie zum Beispiel sind extrem getrennt. Das führt dazu, dass auch die Rollen von Frau und Mann stark getrennt sind. Bis heute ist in Japan die Frau meist für die Familie zuständig. Das führt zu einer bestimmten Art von Machismo und geschlechtlichen Definitionen, was man zu tun und zu lassen hat, die immer wieder zu Problemen führen. Die Familie ist in Japan aber immer noch ein großer Wert. Wobei auch in Japan Familien immer häufiger zerbrechen – wie bei uns. Zudem schrumpfen die Familien, so wie auch die Bevölkerung zurückgeht. Natürlich hat das mit dem Familienleben zu tun, das wieder mit der Arbeitswelt zusammenhängt. Es gibt in den Großstädten viele jüngere Frauen, die voll arbeiten und für die es schwierig ist, eine Beziehung zu finden und Kinder zu kriegen. Berufstätige Frauen werden anders als in einigen europäischen Ländern nicht sehr gefördert. Diese jungen Frauen sind unglücklich. Sie schaffen es zwar, einen Arbeitsplatz zu ergattern, aber sie schaffen es nicht, einen Partner zu finden und eine befriedigende Beziehung aufzubauen.

STANDARD: Erwünscht sind nicht primär glückliche Menschen, sondern fleißige Konsumenten..

Federmair: Natürlich gibt es eine Konsumreligion. In Japan jedenfalls ist das das treffende Wort. Die Religion ist in Japan nicht sehr stark, es gibt keine Sonntagsbräuche. Am Sonntag ruht man sich aus – und es sind alle Geschäfte geöffnet. Am Wochenende wird in den Konsumtempeln das Ritual vollzogen. Es ist nach wie vor sehr viel Geld im Umlauf, es muss ausgegeben werden, die Wirtschaft braucht das. Ich glaube, dass Japan bis heute Avantgarde ist, das heißt, dass man gewisse Entwicklungen dort etwas früher sehen kann. Ich denke, dass unsere westlichen Gesellschaften in diese Richtung gehen.

STANDARD: Auch was Bankenkrisen betrifft war Japan Avantgarde. Wie hier scheint das Vertrauen in immerwährendes Wachstum ungebrochen.

Federmair: Es gibt schon über Jahre hinwegseit Jahren ein sogenanntes "Minuswachstum" (der Begriff zeigt. dass die Orientierung am Wachstum auch im Negativen anhält). Allein das Wort zeigt, dass man immer noch einer Wachstumsideologie folgt. Die Bevölkerung akzeptiert mit ihrer Geduld und durch Unterordnung unter soziale Strukturen, dass sie Jahr für Jahr weniger verdient. Hin und wieder sagt mir ein kritisch eingestellter Kollege: ,Du wirst schon sehen, in einem Jahr gibt es hier große Demonstrationen'. Aber es passiert nicht. Auch nach Fukushima nicht.

STANDARD: Hier passiert auch nichts.

Federmair: Es handelt sich um ein kapitalistisches System, das nicht menschenfreundlich ist und bestimmten Strukturen folgt, man kann das schon lange Zeit beobachten. Natürlich gibt es für das Individuum Alternativen. Ich lebe nicht so, ich lebe nicht nach diesen Kriterien. Ich habe nicht dauernd das Geld im Kopf. Ich beobachte nicht zuletzt in Internet-Postings, dass der Neoliberalismus nach unten, in die Basis gesickert ist. Ständig gibt es diesen Reflex bezüglich des Geldes, der ununterbrochen fragt: 'Wer soll das bezahlen?". Das ist eine Neoliberalisierung der Mikrostrukturen. Und das ist, finde ich, das eigentlich Gefährliche.

STANDARD: Im STANDARD wurde das Thema des anonymen Postens heftig diskutiert.

Federmair: Es gibt eine Lüge der digitalen Interaktivität, auch der medialen Demokratisierung, an die ich nicht glaube. Manche sagen, es gebe jetzt viel mehr Möglichkeiten, sich zu äußern, mehr Information, mehr Demokratie. Ich habe, im Internet übrigens, einen Artikel über Desinformationsgesellschaft geschrieben. Es gibt viel mehr Information als früher. Trotzdem sind die Leute schlechter informiert, neigen etwa zu Verschwörungstheorien. Es gibt viel mehr Möglichkeiten einzugreifen, aber man tut es nicht. Man konsumiert, der Kunde ist König. Das steht heute hinter dem in der Masse verbreiteten Demokratieverständnis.

STANDARD: Das oft nichts mit Demokratie zu tun hat...

Federmair: In der Praxis wird Demokratie als höchster Wert nie hinterfragt, der Wert soll überall – vom Irak bis Afrika – gleich gelten. Da wird dann oft vergessen, dass es sehr viele Kriterien und Notwendigkeiten gibt. Ich glaube, dass Demokratie ohne Bildung nichts ist und die Bildung wird vernachlässigt. Die Lehrer beschimpft man oft, und oft sind sie auch nicht gut. Trotzdem muss man das Bildungssystem schätzen und reformieren, es ist – hier wie dort - extrem wichtig für die Entwicklung unserer Gesellschaften. Mein Eindruck ist aber, dass im Vergleich zur Demokratie (als Schlagwort) Bildung viel weniger geschätzt wird.

STANDARD: Bildung, schreiben Sie, hat mit sinnlicher Erfahrung zu tun.

Federmair: Das sagen auch die Neurologen. Lerneffekte sind dann am größten, wenn es außer dem rein Intellektuellen noch etwas anderes gibt, das man nicht anders als sinnlich definieren kann. Das kann eine gute bildliche Darstellung sein. Ich glaube aber, dass die Person des Lehrers entscheidend ist. Zwischen dieser Person und den Auszubildenden muss eine Beziehung entstehen, und nach meiner Erfahrung gibt es ein gewisses erotisches Moment, das immer wieder auftaucht. Das muss man nicht forcieren, man kann es auch unterdrücken, ich glaube aber nicht, dass man es dauernd unterdrücken sollte, weil es sonst anderswo wieder hochkommt. Ich rede übrigens nicht von Sexualität. Mir geht es um die sinnliche und emotionale Beziehung zwischen Menschen. Ich habe Sprachlehrer erlebt, die bei der Entwicklung von Podcasts ohne persönlichen Kontakt zum Lehrer dabei sind. Die sägen erstens am eigenen Ast, man braucht dann keine Lehrer mehr, und zweitens ist eben meiner Erfahrung nach die persönliche Ebene entscheidend. Die rein intellektuelle, papierene Erziehung, Bildung, Wissensaneignung funktioniert viel schlechter als die sinnlich faktische, konkrete, reale. Sie ist meist auch vergnüglicher, angenehmer und schöner für die Schüler.

STANDARD: Ihre Texte, hat man den Eindruck, sind – auch – ein Aufruf zum Sehen, Schauen und Reflektieren.

Federmair: Wenn Literatur heute überhaupt eine Funktion hat, dann die der Entschleunigung, des genauen Hinschauens, der Erziehung zur Aufmerksamkeit, der Wertschätzung von Kleinigkeiten. Ich sehe eine Strömung in der Literatur, teilweise im Bestsellerbereich aber nicht nur dort, die versucht, die medial beschleunigte Gesellschaft abzubilden und selbst auf gleiche Weise zu agieren. Was das Internet kann, heißt es dann, kann die Literatur schon lange. Oder Gedichte sind gut, weil sie so kurz sind, die kann man auch per SMS schicken. Das ist eine Art von Verschleuderung der eigentlichen Potenzen von Literatur. Diese bestehen im Beharren auf alternativen Lebensformen, die sich der massenmedialen Hysterisierung immer wieder entziehen und ein Aufmerksamsein fördern, das nichts mit Reduzierung von Komplexität zu tun hat, sondern mit stärkerem Differenzieren und Werten, die nicht geldbestimmt sind. Wir mögen da als Literaten in die Defensive geraten sein - aber unsereins kann nicht anders, wir kämpfen weiter. (Stefan Gmünder, Album, DER STANDARD, Langversion, 14./15.9.2013)