Rastloses Leben, laufende Innovationen und eine große Wandlungsfähigkeit: Carl Djerassi, Chemiker, Erfinder der Pille und Autor, der Ende Oktober 90 Jahre alt wird.

Foto: Karen Ostertag

Seit der Einsicht, dass Texte Wirklichkeit konstruieren, ist die Autobiografie eine Variante der fiktionalen Literatur, für die der Autor besonderen Wahrheitsanspruch einfordert. Carl Djerassi, der jetzt bereits seine dritte (und angeblich "allerletzte") Autobiografie vorlegt, erhebt einen solchen Anspruch nicht. Ganz im Gegenteil weist er darauf hin, dass bei dem Versuch, sein Leben autobiografisch zu präsentieren, so "wie es war", kräftige "Filter" wirken, die die Darstellung beeinflussen - und üblicherweise limitieren.

Wer sich für sein Leben interessiere, so Djerassi, solle lieber zu seiner Belletristik greifen - den Romanen und Kurzgeschichten, der Lyrik und den Dramen. Diese Gattungen, in denen sich Djerassi international einen Namen gemacht hat, nachdem er sich vom höchst erfolgreichen Chemiker zum Schriftsteller gewandelt hatte, erlauben ihm unter dem "Deckmantel" der Fiktionalität Zugang zu dem, was "eigentlich" wichtig (und richtig) in seinem Leben ist.

Damit steht er in bester Tradition: Auch die Avantgarde versuchte, sich von den Vor-Urteilen der realistischen Konventionen zu lösen und sich im künstlerischen Experiment der un-verbildeten Wirklichkeit anzunähern. Die Literatur erlaubt Djerassi, näher an sich heranzukommen, als dies in der Autobiografie mit ihrem "realistischen" Anspruch möglich wäre. Man könnte auch sagen, die Fiktion bietet die Freiheit, sich und die Welt ohne limitierende Schranken zu erfinden.

Wozu dann aber überhaupt eine Autobiografie und warum in immer wieder neuen Versionen? Warum sollte die Leserschaft nicht gleich zur Belletristik greifen? Djerassi beantwortet diese Frage im Grunde nicht, und doch wird der Wert des Genres schnell offensichtlich. Es geht nicht primär darum, die autobiografischen "Fakten" seiner Wiener Geburt, seiner Flucht vor Hitler, seiner Migration in die Vereinigten Staaten, seiner wissenschaftlichen Triumphe mit Pille und Cortison nachzuschlagen (was bei der Lektüre natürlich auch geschieht).

Auch liest das Publikum Autobiografien berühmter Menschen gerne, weil der voyeuristische Instinkt, besonders bei einem so freizügig-exhibitionistischen Autor wie Djerassi, dadurch leichter und intensiver als durch die "schöne" Literatur befriedigt wird. (Fast 90 bislang unveröffentlichte Bilder helfen dabei.)

Vor allem aber ist diese monumentale Autobiografie lesenswert, weil sie zeigt, wie die Ereignisse der zwei Jahrhunderte, die Djerassi erlebt hat bzw. erlebt, autobiografisch narrativiert werden, wie ein Mensch sein Leben erzählerisch bewältigt. Das Buch wird dadurch auch zu einem Zugang zum belletristischen Werk.

Beim Schattensammler in der Übersetzung von Djerassis "deutscher Stimme" Ursula-Maria Mössner handelt es sich um die Erstausgabe des Werks, denn das englische "Original" ist noch nicht erschienen. In dieser Tatsache liegt eine tiefere Wahrheit, denn die Übersetzerin hat hier nicht bloß eine "verlässliche" oder "brillante" Übersetzung geliefert. Vielmehr erkennt man in diesem Text einen interlingualen Dialog zwischen Autor und Übersetzerin, die das Buch als Gemeinschaftswerk ausweist. Die alte Forderung der Übersetzer, ihren Namen neben dem Autor zu sehen, wäre hier besonders gerechtfertigt.

Carl Djerassi wird am 29. Oktober dieses Jahres 90 Jahre alt. War er zunächst durch äußere Umstände gezwungen, neu zu beginnen - aus Wien flüchtete er nach Bulgarien, aus Bulgarien in die Vereinigten Staaten, aus den USA zog er nach Mexiko -, so wurde diese Dynamik sehr bald Markenzeichen seines Lebens und damit zum zentralen Motiv der Autobiografie. Die Kreativität des Exilanten im Allgemeinen und Djerassis im Besonderen kommt aus der Erfahrung der Heimatlosigkeit. Mit bitterer Ironie stellt Djerassi fest, dass er, wäre er nicht aufgrund seiner jüdischen Herkunft verfolgt worden, in Österreich geblieben und Arzt geworden wäre. Vielleicht hätte er sogar Waldheim gewählt.

Der Exilant dagegen beginnt ein rastloses Leben, das laufend Innovationen produziert. Djerassi teilt seine Biografie gerne in ein chemisches und ein literarisches Segment, aber Der Schattensammler zeigt, dass bereits der Chemiker nicht bei seinen Leisten blieb. Schon 1952 (!) legte er seinen weißen Mantel ab und überließ die unmittelbare Arbeit im Labor seinen legendären Forschungsgruppen. Mit seiner für Naturwissenschafter ungewöhnlichen Intellektualität und Kreativität leitete er diese Forschung, ermöglicht aber seinen Schülerinnen und Schülern - aus insgesamt 52 Ländern! - gleichzeitig autonome und selbstständige Arbeit.

Schon lange vor seiner zweiten Karriere als Schriftsteller engagiert er sich auch außerhalb der "hard sciences": in der partnerschaftlichen Entwicklungspolitik (Forschungsinitiativen in Afrika), in demografischen und Genderfragen (womit er seinen bekanntesten und größten Erfolg, die Pille, in einen weiteren politischen Kontext stellt) und in der Lehre. Er engagiert sich politisch (u. a. 1972 als demokratischer Delegierter für George McGovern), entwickelt motivierende hochschuldidaktische Konzepte (lange bevor das Modell des forschungsbasierten Lernens entwickelt war) und sammelt Kunst (insbesondere Paul Klee). Er ist ein ganzheitlich denkender kritischer Mensch, ein "intellektueller Polygamist" (so der Titel des Buchs der Grazer Amerikanistin Ingrid Gehrke zu Djerassis Leben und Werk).

Aber erst dem Schriftsteller, vor allem in seiner "science-in-fiction" und "science-in-theatre", gelang die, zuweilen höchst ironische, Selbstreflexion seiner naturwissenschaftlichen Identität. Durch die literaturanthropologische Kritik der Naturwissenschaften als "Stammeskultur", die Djerassi auch eine "Autopsychoanalyse" erlaubt, macht er deren kulturelle Grundlage explizit und versucht damit, die immer größer werdende Kluft zwischen Naturwissenschaft und Gesellschaft (bzw. Naturwissenschaft und Kultur) zu thematisieren und nach Möglichkeit zu verringern. Dass ihm die literarische Wäsche des Laborkittels unter den Mitgliedern seines "Stammes" nicht nur Freunde gemacht hat, versteht sich von selbst.

Erfolgsmensch und Philanthrop

Auch wenn sich Carl Djerassi seine Erfolge hart erarbeitet hat, gibt es viele, die ihm seine Karriere, auch in materieller Hinsicht, neiden. Sie sind ein Teil der "Schatten", die er in seinem Leben gesammelt hat und auf die er hier reagiert. Die Autobiografie zeigt in fast jedem der primär thematisch orientierten Kapitel den Erfolgsmenschen als Philanthropen. Wer Djerassi kennt, ist über seine bescheidene, fast spartanische Lebensweise verwundert.

Seine finanziellen Ressourcen investiert er in Schenkungen, die vor allem Künstlern und künstlerischen Institutionen zugutekommen. Der dunkelste Schatten seines Lebens, der Selbstmord seiner Tochter Pamela, einer jungen Künstlerin, hat ihn dazu gebracht, mit einer Stiftung eine der wichtigsten Künstlerkolonien der Vereinigten Staaten zu gründen. Im Rahmen des "Djerassi Resident Artists Program" südlich von San Francisco konnten bislang mehr als 2000 Künstlerinnen und Künstler auf Djerassis ehemaliger "Ranch" arbeiten.

Auch Österreich kam in den Genuss des bürgerlich-mäzenatischen Engagements dieses außergewöhnlichen Mannes, u. a. durch eine umfangreiche Klee-Schenkung an die Albertina und zwei wichtige kinetische Skulpturen von George Rickey. Der Prozess seiner "Versöhnung" mit Österreich und seiner Heimatstadt Wien (die ihm 2005 gewidmete Briefmarke bringt die Beziehung auf den Punkt: geboren - vertrieben - versöhnt) nimmt in der Autobiografie breiten Raum ein.

Für die österreichischen Leser ist es der interessanteste Teil des Buchs. Der energiegeladene, hoch agile Djerassi, der sich in Wien eine Wohnung gemietet und seine Geburtsstadt damit neben San Francisco und London zu seinem dritten Wohnsitz gemacht hat, hat die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen und engagiert sich, in vollem Bewusstsein seiner Situation als ehemals verfolgter Jude und Exilant, breit in der öffentlichen Diskussion des Landes. Österreich, so sagt er in einem der vielen humorvollen Teile seines Buches, war immer seine kulinarische Heimat; nun zeigt er uns, was es heißt, als Staatsbürger und Mensch zurückzukehren. Heimat, so sagt er in einer bemerkenswerten Passage, ist dort, wo "niemand mehr die Macht hat, anderen ein Anführungszeichen aufzuzwingen".

Das Verblüffendste an diesem kurzweiligen Buch, das neben dem autobiografischen Diskurs auch umfangreiche Paralleltexte enthält, ist die entwaffnende Offenheit des Erzählers, etwa, wenn er wiederholt seine große Einsamkeit thematisiert. Angesichts hunderter freundschaftlicher Kontakte, die Djerassi pflegt und die in diesem Buch auch nachhaltig dokumentiert sind, seiner rastlosen Reisetätigkeit (die unter djerassi.com im Detail nachverfolgt werden kann) fragt man sich, was damit gemeint sein könnte. Es ist die Einsamkeit des Neunzigjährigen, dessen Generationsgemeinschaft ihm größtenteils schon vor langer Zeit abhandengekommen ist; die Einsamkeit des Intellektuellen und Aktivisten, der an vielen (zu vielen?) Orten zu Hause ist (geografisch, beruflich, disziplinär); die Einsamkeit des Vaters und Ehemanns, der seine Tochter und (dritte, viel jüngere) Gattin verloren hat.   (Walter Grünzweig, Album, DER STANDARD, 21./22.9.2013)