"Einsam war sie, fordernd bis zum Extrem, wie auch ihre Bücher, in denen sie aufs Ganze ging": Clarice Lispector.

FFoto: Paulo Gurgel Valente / Schöffling & Co

Zum Glück ist Chinesisch so schwierig. Denn wäre der 1976 geborene Amerikaner Benjamin Moser nach wenigen Wochen des Studiums der chinesischen Sprache nicht so frustriert gewesen, und noch frustrierter durch die kühle Bemerkung seines Professors, er, Moser, würde nach schätzungsweise zehn Jahren ernsthaft darangehen können, chinesische Literatur zu lesen, dann wäre er nicht zu einer einfacher zu erlernenden Sprache gewechselt, Portugiesisch. Und dann wäre er wohl kaum auf die Bücher der brasilianischen Autorin Clarice Lispector gestoßen.

Diese Schriftstellerin mit dem seltsamen Nachnamen, deren Vorname sich "Klarissi" ausspricht, wird nun, nach fast zwei Jahrzehnten skandalösen völligen Verschwindens und Vergessens seitens des hiesigen Buchmarkts und Verlagswesens, dank des Schöffling-Verlags wiederentdeckt. Zwei Romane liegen seit kurzem vor, davon einer in deutscher Erstübersetzung; vor allem aber ist in Bernd Rüllkötters überaus geschmeidiger Übertragung nun die monumentale Lebensbeschreibung aus der Feder Benjamin Mosers auf Deutsch erschienen. Moser ist heute in Utrecht als Literaturkritiker und Übersetzer ansässig, er fungiert als Herausgeber von Lispectors Werken auf Englisch in einem New Yorker Verlag und hat sie so im angelsächsischen Sprachraum seit einigen Jahren erneut ins literarische Bewusstsein gerückt - was für den deutschsprachigen Raum noch nachzuholen ist.

Denn die 1920 in einem Schtetl in der Region Podolien im Westen der Ukraine geborene und am 9. Dezember 1977, einen Tag vor ihrem 57. Geburtstag, in Rio de Janeiro an Krebs verstorbene Autorin war zu Lebzeiten nicht nur in Brasilien die bekannteste Dichterin ihres Landes. Sondern die bedeutendste. Und die größte. Weshalb auch ihre Werke einst hierzulande mehrere Jahre von den Verlagen Suhrkamp und Rowohlt betreut wurden; während sie heute jedoch vergriffen, nahezu verschollen sind. Einiges harrt gar noch der Übertragung. Dafür eignet sich als vortrefflicher Ersatz diese in vielerlei Hinsicht phänomenale, vorbildhafte Lebensbeschreibung.

Denn Moser erzählt so manches aus dem intensiven Leben der viele infernalisch betörenden Autorin, was von ihr selbst verbreitete Mythen erdet. Anderes hat er erstmals sorgfältig vor Ort recherchiert und erzählt davon in einem durchgehend durchsichtigen, höchst lesbaren Stil. So schildert er die Historie und die Herkunft ihrer armen jüdischen Familie sehr eindringlich. Die Gründe, weshalb die Lispektors (damals noch mit "k") in den frühen 1920er-Jahren die Ukraine verließen, waren unübersehbar: die unfassbar grausamen Pogrome während der postrevolutionären Jahre.

Er erzählt präzis davon, wie es ihnen gelang, nach Brasilien zu emigrieren. Wie das jüdische Leben im nordbrasilianischen Bundesstaat Pernambuco beschaffen war. Wie die Mutter, mehrfach von russischen Soldaten vergewaltigt und dadurch mit Syphilis infiziert, dort vor den Augen von Clarice und ihren zwei älteren Schwestern jahrelang intolerable Schmerzen durchstand, bis sie elend starb. Wie sich jüdische Immigranten in Recife durchschlugen. Wie Clarice 1943 mit ihrem Debüt Nahe dem wilden Herzen zur Sensation der Literaturszene wurde. Wie sie einen Diplomaten heiratete, mit diesem mehr als 15 Jahre im Ausland lebte, in Italien, in Bern, Schweiz, wo sie depressiv wurde, und in Washington, D. C., und Kinder bekam. Wie sie sich scheiden ließ und als Alleinerziehende zweier Söhne, von denen der Ältere bald unheilbar an Schizophrenie erkrankte, nach Rio zurückkehrte. Vor allem schildert Moser mit großer analytischer Dezenz, umfassend und im Urteil ausgewogen klug, wie Lispector ihre kompositorisch anspruchsvollen wie hochintensiven Bücher schrieb, wie sie als Kolumnistin berühmt, aber nie wohlhabend, medikamentenabhängig und immer unkonventioneller wurde. Eingebettet in Landes-, Freundes- wie Familiengeschichte, erzählt er vom Wohnungsbrand Ende der 60er-Jahre, von dem Lispector eine verkrüppelte rechte Hand, ihre Schreibhand, und zahlreiche Narben an den Beinen davontrug, und wie sie im Jahrzehnt bis zu ihrem Tod ausdauernd um ihre seelische Gesundheit rang, inklusive des ihr zuwachsenden sozialen Malus der Exzentrizität. Einsam war sie, fordernd bis zum Extrem. So wie auch ihre Bücher, in denen sie formal, sprachlich wie inhaltlich aufs Ganze ging, in Die Passion nach G. H. (1963) etwa, in Der Apfel im Dunkeln von 1961 oder im posthum erschienenen Aqua viva, die heute allesamt zur Weltliteratur gehören.

Das Urteil, dieses psychologisch ausgreifende nuancenreiche Porträt werde für die nächsten Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte die maßgebliche Biografie dieser Schriftstellerin sein, erscheint alles andere als vermessen. Denn Moser konnte noch mit vielen Verwandten und Freunden sprechen, die das Erscheinen dieser fulminanten Lebensbeschreibung nicht mehr erlebten oder seit dem Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe verstorben sind. (Alexander Kluy, Album, DER STANDARD, 12./13.10.2013)