Alex Atala mit dem Amazonas-Fisch Pirarucu.

 

Foto: Edu Simões/The Observer/The Interview People

Der hat 'ne Ameise! Ananas, gewürzt mit der zitronengrasigen, ingwerwürzigen Kraft der Saúva-Ameise.

Foto: Sergio Coimbra, aus dem Buch D.O.M. Die neue brasilianische Küche, Phaidon/Edel 2013

Der Koch und sein Gärtner: Alex Atala (links), auf Platz sechs der besten Köche der Welt gereiht, zu Besuch bei den Baniwa im Amazonas. Atalas Küche lebt von Aromen des Urwalds und den kulinarischen Traditionen lokaler Stämme, die er mit den Techniken der Hochküche interpretiert.

Foto: Sergio Coimbra, aus dem Buch D.O.M. Die neue brasilianische Küche, Phaidon/Edel 2013

Garnelen mit Tucupí (fermentierter Manioksaft)

Foto: Sergio Coimbra, aus dem Buch D.O.M. Die neue brasilianische Küche, Phaidon/Edel 2013

Für die Brasilianer beginnt der Amazonas erst richtig in Manaus, der Stadt im Urwald, wo Solimões und Rio Negro zusammenfließen. Man kennt es als einstige Hauptstadt des Gummihandels und als Standort des wohl entlegensten Opernhauses der Welt. Wir sind mit Alex Atala hier, einem Mann mit massiven Tätowierungen und feuerrotem Haar, der als bester Koch Südamerikas gilt und der einzige Küchenchef ist, der es auf die aktuelle Time-Liste der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten des Planeten geschafft hat. Früher einmal war Atala ein richtiger Bad Boy, mit Drogenproblemen und allem, was dazugehört. Heute gilt er als Star auf der Weltbühne des guten Geschmacks und hat großen Appetit, diesen Ruhm in handfesten Einfluss auf die Geschicke seines Landes umzumünzen.

Früchte des Urwalds

Sechs Tage wollen wir unterwegs sein, um tief im Urwald Mitglieder der Baniwa, der Baré und anderer indigener Völker aufzusuchen, mit denen Atala im Rahmen seines Instituts ATÁ zum Schutz des gastronomischen Erbes des Amazonas zusammenarbeitet. Und wir sind auf Entdeckungsreise, um auf den Geschmack jener autochthon brasilianischen Köstlichkeiten zu kommen, deren Pflege Atala sich verschrieben hat: Früchte des Urwalds, fermentierter Maniok und natürlich Ameisen.

Als Atala 1989 nach Europa kam, um kochen zu lernen (in der Hoffnung, dass das besser bezahlt wäre als sein damaliges Leben als Maler und Anstreicher), hat ihm das Essen zuerst einmal gar nicht geschmeckt. "Ich hatte noch nie Lachs gekostet", sagt er, "Trüffel, Gänseleber, Kaviar - das wollte ich alles nicht. Es hat mich daran erinnert, als ich als kleiner Bub zum ersten Mal mit meinem Vater und Großvater im Amazonas jagen und fischen war. Da hat vieles sehr merkwürdig geschmeckt, war einfach zu unbekannt. Aber irgendwann hat sich das gewandelt, und heute habe ich nostalgische Gefühle für diese Aromen."

"Ein Gigant unter den Köchen"

Die Reaktion auf Trüffel und Foie gras sollte für Atalas zukünftiges Leben bestimmend sein. Atala kochte bei großen Köchen in Belgien, Frankreich, Italien, bevor ihm klar wurde, dass er "niemals so gut französisch kochen werde wie ein Franzose oder italienisch wie ein italienischer Koch". Im Umkehrschluss wurde ihm dafür etwas anderes klar: "Keiner von denen kann je so brasilianisch kochen wie ich."

Er ging zurück nach São Paulo, begann europäische Küchentechniken mit indigenen Produkten zu kombinieren. Der Erfolg kam schnell, 1999 eröffnete er sein Restaurant DOM, das Nummer sechs auf der Liste der besten Restaurants der Welt ist und als kommende Nummer eins gehandelt wird. Für René Redzepi vom Noma ist er "ein Gigant unter den Köchen".

Aromen prägen die Erinnerung

"Es gibt gute, sehr gute und außerordentliche Köche", sagt Atala, "das Entscheidende liegt darin, die Aromen in der Erinnerung präsent zu haben. Wenn Mozzarella für Italien steht und Miso für Japan, dann sind Tucupi (fermentierter Manioksaft, Anm.) und Ameisen die Geschmäcker Brasiliens." Schon bei unserer ersten Begegnung vor zwei Jahren in Kopenhagen hatte Atala von Ameisen gesprochen. Was er damals gesagt hatte, sollte wie ein betörendes Mantra über der Reise in den Dschungel stehen: "Nicht Ameisen schmecken wie Zitronengras und Ingwer - Ingwer und Zitronengras schmecken wie Ameisen!"

Atalas eigenen Moment der Erleuchtung schuldet er Dona Brasi vom Volk der Baré, einer der 23 Volksgruppen in der Region São Gabriel da Cachoeira. Dort war unsere erste Station, 1000 Kilometer flussaufwärts am Rio Negro, nahe an der Grenze zu Kolumbien.

Da sind nur Ameisen drin

In seinem Kochbuch erzählt Atala von seiner ersten Begegnung mit dieser großartigen Köchin: "Welche Kräuter sind in diesem Gericht?", fragt Atala, als er ihr Essen zum ersten Mal kostet. "Ameisen", antwortet Dona Brasi. Atala wiederholt seine Frage: "Ich wollte wissen, mit welchen Kräutern das Gericht gewürzt ist." "Mein Sohn, da sind nur Ameisen drin."

Während unseres Aufenthalts in São Gabriel kocht Dona Brasi im Instituto Socio Ambiental (ISA), einer NGO, die indigene Kulturen fördert und schützt. Unsere Zimmer blicken über die weißen Wasserfälle des schwarzen Flusses, rundum explodiert das Grün in hunderten Schattierungen. Wir sitzen auf der Terrasse, die Kolibris schwirren, die Wasserfälle brüllen. Bei Dona Brasis Essen schmilzt die Angst vor den kulinarischen Herausforderungen des Urwalds wie Butter in der Sonne. Süß, sauer, scharf und kühl, knusprig, mollig, herrlich fett - das ist großartig balanciertes Essen, ganz und gar fremd und doch irgendwie vertraut.

Maniok, ein Universum des Geschmacks

Später sind wir dabei, als Dona Brasi auf ihrem Hof Maniokmehl herstellt. Maniok ist in Brasilien als Cassava geläufig und hat in der indigenen Ernährung einen unverrückbaren Platz - bis zu 80 Prozent der lokalen Küche werden von der Wurzel und ihren 200 Unterarten bestritten.

Die Wurzel wird ausgegraben, zerrieben, der Brei gepresst. Die Flüssigkeit wird über Feuer reduziert, um nach entsprechender Fermentation zu Tucupi zu werden, dessen Geschmack reich an Umami ist und Fonds und Suppen Körper verleiht - oder es wird mit Ameisen zu einem Dressing verrührt. Die Stärke wird zu Tapioka, das Mehl, Farinha genannt, zum universell einsetzbaren Grundnahrungsmittel. Oder zu Chibé, einem fermentierten Getränk. Unerhört vielfältig ist diese Wurzel, die einer halben Milliarde Menschen als Grundnahrungsmittel dient - und im Westen so gut wie unbekannt ist.

Maniokbrei brutzelt in der Pfanne

Dona Brasi röstet Maniokbrei in einer riesigen, flachen Pfanne über offenem Feuer, rührt ohne Unterlass mit einer Art Paddel um. Intensiver Rauch, extreme Hitze. Das Mehl vermischt sie mit der fermentierten Wurzel, die, wie alles hier, binnen Stunden zu gären begonnen hat. Dann kommt Tapioka dazu, jetzt brutzelt und zischt es, der stärkehaltige Brei bildet eine dicke Kruste.

Wir bekommen ihn als Beiju serviert, einem richtig raffinierten Fladenbrot mit wunderbar elastischem und doch knusprigem Biss. Der Rest von Dona Brasis erweiterter Familie wird noch Tage beschäftigt sein, um das Feld umzugraben, die Wurzeln zu ernten und Mehl, Tucupi und Tapioka herzustellen. Bevor wir aufbrechen, packt Dona einen Berg Farinha ein.

Bewahrung der Chili-Verarbeitung

Auf dem Weg zum Fluss, wo wir zum Dorf der Baniwa übersetzen, kommt Atala auf die Arbeit zu sprechen, die seine ATÁ-Stiftung bei der Bewahrung der Chili-Verarbeitung dieser Volksgruppe leistet, und wie dieses außergewöhnliche Produkt vermarktet werden kann. "Der Baniwa-Chili ist ein Sinnbild, nicht nur für seinen fantastischen Geschmack, sondern auch als Kultur. Wie die Frauen das Land bestellen, wie sie ihn ernten, ist sehr speziell und bewundernswert nachhaltig. Die Baniwa verwenden diesen Chili in Initiationsriten, er gilt ihnen als heilige Pflanze."

Zumindest war das so, bis katholische und neukirchliche Missionare auftauchten. Rund 90 Prozent der Indigenen in der Region haben inzwischen neukirchliche Glaubensformen angenommen. Die Malocas (gemeinschaftliche Langhäuser) sind verschwunden, an ihrer statt gruppieren sich nunmehr winzige Häuschen um eine im Zentrum platzierte Kirche. "Die Missionare haben unsere Gemeinschaft zerstört, als sie die gemeinsamen Unterkünfte aufgelassen haben", sagt Max, ein Mitarbeiter der Indigenen-Organisation FOIRN (Federação das Organizações Indígenas do Rio Negro). "Wir haben aufgehört, als Kollektiv zu funktionieren, und wurden Individuen. Jetzt muss ich für den Fisch von meinem Bruder immer öfter bezahlen."

Hie und da aber gibt es zähe Nester des Widerstands. FOIRN hat im Zentrum von São Gabriel eine Maloca neu aufgebaut. "Sie ist ein Symbol der Lebensweise meines Großvaters und seiner Ahnen", sagt Max, "jede Säule, jeder Strohhalm hat immense Bedeutung".

"ATÁ kann da wichtige Unterstützung leisten", sagt Alex Atala, "mit Sozialleistungen, mit Förderungen für Kleinunternehmen, mit lokalen Kulturinitiativen - da geht es um mehr als bloß Geld. Wir wollen das Leben dieser Gemeinschaften verändern." Renato Martelli Soares von ISA pflichtet ihm bei: "Die Baniwa haben diese Chilis seit Jahrhunderten kultiviert, sie sind von außerordentlicher Qualität. Mit dem Projekt fokussieren wir auf die Beziehung zwischen Mensch, Feuer und Speisen."

Eine Wand aus Regen

Auf dem Weg zu den Feldern der Baniwa ist plötzlich ein Geräusch zu hören, als ob ein Wasserfall in der Nähe wäre. Nur ist da keiner: Eine Wand aus Regen klatscht auf das dichte Laubdach des Waldes und nähert sich mit hoher Geschwindigkeit. Wir sind dabei, eine schonungslose Lektion verpasst zu bekommen, woher der Regenwald seinen Namen hat. Die Baniwa pflücken sich große Blätter, um sie als Schirme zu benutzen. Binnen Sekunden können wir die vor uns Gehenden nicht mehr erkennen und stolpern blind voran, überqueren Bäche auf glitschigen Baumstämmen. Schließlich muss auch unser Führer einsehen, dass wir uns verirrt haben.

Klatschnass und durchgeweicht kommen wir später zurück ins Dorf. Jede Familie steuert Speisen zu einem gemeinsamen Mahl bei, wir teilen dicht gewürzte Suppen mit Cubiu (einer wilden Tomatensorte), mit Tucupi und Baniwa-Chilis. Wir essen seltsamen Fisch, über offenem Feuer geräuchert, und kosten viele Varianten von Chibé. Eine erstaunliche Vielfalt an Geschmäckern und Fermentationsvarianten erschließt sich plötzlich, entstanden aus nichts als Wasser und Maniokmehl - denkbar rudimentären Inhaltstoffen.

Rohe Aromen des Amazonas

Wenige Tage später sind wir wieder in São Paulo, um im DOM zu speisen. Die rohen Aromen des Amazonas stehen auf der Speisekarte, bis hin zu Atalas Signature Dish aus Filhote-Fisch, Tucupi und Tapioca - wiewohl die Brühe in ihrer Opulenz und Tiefe hier geradezu orientalisch anmutet. Das Menü nimmt uns mit auf eine Reise durch Brasilien: Blumen-Ceviche mit einheimischem Honig, Wildschwein mit Maniokmehl und, natürlich, zitronengrasige, ingwerwürzige Ameisen, die mit Ananas serviert werden. Dazu die Rezeptanleitung aus dem Buch: "Ein Stück Ananas auf einen Servierteller geben und darauf eine Saúva-Ameise platzieren. Sofort servieren."

Brillante Kochkunst von einem fantasiebegabten Koch ist das. Plötzlich kommt uns das Gespräch an den Wasserfällen von Manaus wieder in den Sinn, über die Kraft der Erinnerung, die den Unterschied zwischen gut und außerordentlich ausmacht. Tags darauf sehen wir einander für ein letztes Gespräch über Atalas Pläne mit ATÁ. Während unserer Woche im Amazonas sind in ganz Brasilien Straßenproteste losgebrochen. Es kam zu Straßenschlachten mit der Polizei, Abertausende demonstrierten für bessere Sozialpolitik. Am Tag meiner Ankunft in São Paulo hatte Atala sich ihnen angeschlossen - bewaffnet mit einem Fläschchen Essig als Antidot für das Tränengas. "Als Brasilianer wächst man mit der Gewissheit auf, dass alles immer nur schlechter wird", sagt Atala. "Bis wir eines Tages begannen, an unsere Zukunft zu glauben. Daran, dass die Dinge sich auch zum Besseren wenden können. Nur: Ein Gesundheitssystem haben wir noch immer nicht, die Schulen sind schrecklich. Die Menschen hier stehen dauernd am Abgrund."

Atalas Denken und Tun aber ist von der Gewissheit bestimmt, dass die Brasilianer keinen Führer mehr brauchen, der ihnen sagt, wann sie etwas tun müssen. "Essen ist am Kreuzpunkt von Kultur und Natur", sagt er, "ATÁ ist kein Institut für Großköche oder für Rezepte oder gar für Foodies - sondern ein Institut für den Wandel. Ich glaube ganz stark daran, dass es an uns liegt, die Dinge zu ändern. Ich bin vielleicht eine Berühmtheit in meiner kleinen Gourmetwelt, einer der 50 besten Köche der Welt - aber ich will nicht in zehn Jahren zurückblicken und bemerken, dass ich meine Stimme nicht eingesetzt habe."

Die geraubte Erinnerung

Das erinnert an ein Erlebnis an unserem letzten Tag im Regenwald, als wir die FOIRN-Leute getroffen haben. Felipe, ein junger Koch aus Manaus, war damit beschäftigt, für ATÁ die Pilze des Amazonas aufzuzeichnen, und zeigte einigen Führern der Indigenen seine Ergebnisse. "Warum habt ihr aufgehört, diese Pilze zu sammeln?", fragte er. Ein alter Mann antwortete: "Als ich fünf Jahre alt war, hat uns eine Missionarin erklärt, wie dumm und unfähig wir für den Fortschritt seien. Sie erklärte, dass unser Essen keinen Nährwert habe und wir doch vielmehr Weizenmehl essen sollten. Da waren wir zwar verärgert - aber es hat dazu geführt, dass wir die Erinnerung an das, was gut war, mehr und mehr vergessen haben."

Die Geschichte hat die Missionare Lügen gestraft. Heute wird indigenes Essen dank Atala und anderer endlich in ganz Brasilien gefeiert - und im Rest der Welt ebenso. (Allan Jenkins/The Observer/The Interview People, Rondo, DER STANDARD, 18.10.2013) Übersetzung: Severin Corti