Für Thomas Manns Schwiegermutter gab es kaum eine "interessantere Lektüre" als "Briefe bedeutender Persönlichkeiten, mit all ihren Verflechtungen". Wer Hedwig Pringsheims eigene Briefe liest, wird diese Faszination rasch verstehen: Denn die im Jahr 1855 als Tochter der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm und des Kladderadatsch-Redakteurs Ernst Dohm Geborene war selbst eine bedeutende "femme de lettres". Vor allem ihre erst spät entdeckten Briefe an ihre Tochter Katia Mann aus dem "braunen" München sind ein bedeutendes Dokument der Zeitgeschichte und sollten Hedwig Pringsheim einen Platz in der Literaturgeschichte sichern.

Als editorische Großtat muss die von Dirk Heißerer besorgte Ausgabe in zwei dicken Bänden bezeichnet werden. Welche Sisyphusarbeit hier zu leisten war, zeigt schon die Gewichtung: 600 Seiten an Briefen stehen hier über 1000 Seiten an Kommentaren und Materialien gegenüber. Erläuterungsbedürftig sind die nach Küsnacht, Sanary-sur-Mer oder Princeton gesandten Schreiben nicht nur, weil Katias Gegenbriefe verschollen sind. Sondern vor allem, weil sich Thomas Manns Schwiegermutter einer lustvoll zelebrierten sprachlichen Camouflage bediente. Dank ihr konnte Hedwigs "Nachrichtendienst" der mit Thomas Mann im Exil lebenden Tochter über Nazi-Deutschland berichten. Bestes Beispiel für Hedwigs Qualitäten als "Rebusdichterin" ist ihre verschlüsselte Warnung an Katia Mann, auf keinen Fall allein nach Deutschland zurückzukehren.

"München, 26. 3. 1933 / Liebe Kleine! [...] ich hatte heute Gelegenheit, mit einem Arzt zu sprechen, der in Krankheitsfällen wie dem von Reh Specialist mit großen praktischen Erfahrungen ist. Er meinte, ich sollte dir dringend raten, doch nicht so bald, wie es deine Absicht war, ihn zu verlassen, sondern noch längere Zeit als Pflegerin ihm zur Verfügung zu bleiben. Solche Fälle von schwerer Kopfgrippe, wie der seine, neigten häufig zu Rückfällen, dann seiest du ihm doch absolut notwendig, und wenn du einmal fort wärest, sei es vielleicht für dich nicht leicht möglich, zu ihm zurückzukehren. [...] Eine Trennung auf lange Sicht wäre bei seinem Zustand doch eine allzu harte Prüfung. Sapienti sat."

Sapienti sat - für den Klugen genug ... Dem heutigen Leser hilft der detaillierte Stellenkommentar. Und das Personenglossar: "Reh" war nur einer von vielen Decknamen für Thomas Mann. Sich selbst nannte Hedwig "Fink", und für ihren Gatten, den schwerreichen Mathematiker Alfred Pringsheim, stand "Fay". Gemeinsam waren sie die "Uralten" - nach Huij und Tuij im Joseph-Roman ihres "Schwiegertommys". Bei den Manns wurde von jeher eine ironisch-doppeldeutige Kommunikation gepflegt. Gewürzt mit Klassikerzitaten und Dialektausdrücken sind Hedwigs Briefe ein Lesevergnügen, dem ernsten Hintergrund zum Trotz.

Die Familie erwartete, dass die "Uralten" endlich auch aus Nazi-Deutschland emigrieren würden. Sie selbst - so berichtete der Enkel Klaus Mann später - hätten das für "eine Kateridee" gehalten; wild entschlossen seien sie gewesen, "den ganzen Nationalsozia-lismus glatt zu ignorieren". Das wäre freilich schlecht möglich gewesen - zu sehr griffen die Nazis in das Leben der Pringsheims ein, die sich erst am 31. Oktober 1939, buchstäblich mit dem letzten Zug, in die Schweiz retteten. Schon im September 1933 mussten sie ihre Münchner Villa räumen, da diese einem Führerbau weichen musste: der Anfang einer Odyssee des hochbetagten Paares in immer kleinere Wohnungen. Alfred verlor seine Lehrerlaubnis, die Reisepässe wurden eingezogen, 1938 dann raubte ihnen die Gestapo ihre Kunstsammlung. Ebenso faszinierend wie irritierend ist freilich der Ton, in dem Hedwig ihrer Tochter von all den Schikanen und Rechtsbeugungen erzählt. Wie von der erzwungenen Abgabe ihres Radiogeräts im November 1938: "Auch radioaktiv sind wir nicht mehr, leben im Zustand primitivster Einfalt, wie weiland Adam und Eva im Paradiese. Auch an der Schlange fehlt es nicht. Wir beißen halt, wie unsre Voreltern, in den sauren Apfel. Es ist ganz wundernett, wir genießen diese Vereinfachung unsrer Lebensweise glücklich und zufrieden."

Angesichts solcher Kommentare nannten einige Rezensenten Hedwig Pringsheim eine "Verdrängungsartistin" und hielten ihr "Schönfärberei" vor. Das dürfte ein Missverständnis sein: Statt sich zu empören oder die Fassung zu verlieren, begegnet hier eine der letzten Vertreterinnen des deutschjüdischen Bildungsbürgertums dem erlittenen Unrecht hocherhobenen Hauptes - und verwandelt es mithilfe ihres souveränen Geistes in Literatur. Das verdient alle Bewunderung des nachgeborenen Lesers. (Oliver Pfohlmann, Album, DER STANDARD, 9./10.11.2013)