Wien - Die Schtetlech in den östlichen Ausläufern Polens waren ein Herzstück jüdischer Kultur in Europa. Deren Stadtgemeinden umfassten 1000 bis 15.000 jüdische Einwohner. Laut Auskunft des Shoah-Forschers Yehuda Bauer bewohnten 1939 rund 1,3 Millionen Juden die "Kresy". Zu diesem Landstrich (polnisch: "Grenzland") gehörten Nordostpolen, Wolhynien und Ostgalizien.

Ihren Lebensraum teilten die Schtetl-Bewohner mit Ukrainern im Süden, mit Polen und Weißrussen (Norden). Aus der Nachbarschaft schlug den Juden Hass entgegen. Dieser Umstand sollte ihr Schicksal während der Nazi-Okkupation besiegeln. Das von Sholem Aleichem und Sholem Asch besungene Schtetl wurde von den NS-Schergen und deren Kollaborateuren ausgelöscht. Den Tod des Schtetls dokumentiert das neue Buch des israelischen Shoah-Forschers Yehuda Bauer (87).

Schtetl-Bewohner waren meistens wenig wohlhabend. Angesiedelt in den Tagen der polnischen Adelsrepublik, bildeten sie die Brücke zwischen Grundherren und Bauern. Die Juden lieferten den Landwirten Güter aus den Städten, manche waren Steuereintreiber. Der Antisemitismus wurde von den Kirchen nach Kräften geschürt. Das Gift verbreitete sich gleichmäßig unter Ukrainern und Polen. Als die Polen 1918 ihren eigenen Staat erhielten, erzählt Yehuda Bauer in seinem Werk, wurde die Rückständigkeit des Landes sofort spürbar. Dabei litten die Juden nicht weniger Armut als ihre Mitbürger.

Trotzdem schwoll der Judenhass an. Polnische Parteiführer dachten über die Zwangsausbürgerung der Juden nach. In den Schtetlech erhielten zionistische Organisationen regen Zulauf. Die Gemeinden boten ein verwirrend vielfältiges Bild. Orthodoxe lebten Tür an Tür mit Chassiden, Sozialisten und Zionisten. Die Gemeinden aber organisierten das kommunale Leben. Die lokalen Oligarchien kümmerten sich um die Sozialfürsorge und die Ausübung der Religion.

Zweierlei Maß

Die Völkermordpolitik der deutschen Invasoren setzte zeitgleich mit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 ein. Yehuda Bauer lenkt das Augenmerk auf einen wenig bekannten Umstand. Als die SS-Mordeinheiten (" Einsatzgruppen") mit den Massakern an der Zivilbevölkerung begannen, waren die Schtetl-Strukturen im Wesentlichen bereits zerschlagen. Das polnische Grenzland war 21 Monate lang unter sowjetischer Verwaltung gestanden. Die Sowjet-Kommunisten waren keine Antisemiten. Aber sie setzten das jüdische Gemeindeleben außer Kraft.

Die Politik der Sowjetisierung zeitigte völlig unterschiedliche Auswirkungen. Für zahlreiche Juden eröffneten sich neue Aufstiegsmöglichkeiten. Viele Tausende wurden hingegen als Klassenfeinde identifiziert und verschleppt. So kam es, dass ausgerechnet die in Stalins Lager deportierten Juden bessere Überlebenschancen besaßen als die späteren Opfer des NS-Genozids.

Die Namen der Städte und Stätten des jüdischen Martyriums hallen vertraut nach: Czortkow, Buczacz, Rowne, Nowogródek ... Die Deutschen verloren keine Zeit mit dem Morden. Zehntausende Juden fielen bereits in den Monaten bis zum Jahreswechsel 1941/42 den Massakern ("Aktionen") zum Opfer. Von den Verwaltern des Todes wurden Judenräte gebildet. Die (vorerst) überlebenden Schtetl-Bewohner pferchte man in Ghettos. Die Nachbarn von gestern plünderten ungeniert jüdische Besitztümer. Ukrainer und Weißrussen gingen den NS-Schergen bereitwillig zur Hand. Yehuda Bauer listet die Namen vieler Helden auf. Immer wieder bildeten die jüdischen Gemeinschaften Widerstandsgruppen im Untergrund. Gegenwehr gab es auch ohne realistische Erfolgschancen.

Tausende Juden flohen in die Wälder und Sumpfgebiete, hausten in Erdlöchern oder schlossen sich den Sowjetpartisanen an. Da war das alte Schtetl schon tot. Von den 1,3 Millionen Juden in den "Kresy" überlebten geschätzte 25.000 den Krieg. Yehuda Bauer nennt drei Faktoren für das Davonkommen: Charakter, Zufall, Glück. Man spürt die Ratlosigkeit. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 9.11.2013)