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Spielt live derzeit lieber die jüngsten Songs seines CD-Katalogs: Bob Dylan.

Foto: APA/ePA/ CASTELLO

Wien - Mit dem Leben unter Tage in einer Kohlengrube hat Bob Dylan einmal die Arbeit im Tonstudio verglichen. Die Summe seiner über 50-jährigen Tätigkeit als "recording artist", nicht weniger als 35 Studioalben, versammelt The Complete Album Collection Vol. 1 (erschienen bei Sony), die darüber hinaus sechs Livealben und bisher auf Compilations verstreute Side Tracks enthält.

Medial angekurbelt von einem interaktiven Video zur epochalen 1965er-Single Like a Rolling Stone, ist das Box-Set nun just in jenen Tagen erschienen, in denen sich der 72-Jährige auf der Europa-Etappe seiner Never Ending Tour lieber neuen Songs widmet.

Frühe, oft in wenigen Tagen eingespielte Großtaten wie The Freewheelin' Bob Dylan, Highway 61 Revisited oder Blonde on Blonde finden sich in der luxuriösen Edition auf Augenhöhe mit wenig geschätzten Veröffentlichungen der 80er-Jahre, die nun mit erstmals remasterter Tonqualität locken sollen.

Zwar konnte Dylan Anfang der 80er nach wie vor aus einem gewaltigen Reservoir neuer Songs schöpfen. Gerade herausragende Stücke wie Carribean Wind oder Blind Willie McTell landeten aber nicht auf den entsprechenden Alben Shot of Love und Infidels, sondern für Jahre im Archiv. Spätestens hier wird die 1991 gestartete Raritätenreihe The Bootleg Series, die es auf mitterweile zehn Folgen bringt und als Volume 2 der Complete Album Collection erscheinen soll, zur gleichwertigen, oft überzeugenderen Parallelerzählung.

Schlecht gealtert

Kein Album ist schlechter gealtert als jenes, mit dem Dylan 1985 versucht, Anschluss an die MTV-Generation zu finden: Auch interessantere, teils aus Film-Noir-Dialogen gespeiste Songs auf Empire Burlesque versinken gnadenlos im durch kein Remastering zu rettenden Synthie-Gewaber des Tontechnikers der Stunde, Arthur Baker. Das Nachfolgealbum Knocked Out Loaded, für das ein immer orientierungsloserer Dylan Zuflucht bei Coverversionen und in der Zusammenarbeit mit Songwriter-Kollegen sucht, ist das schwächste Album seiner Karriere, enthält aber mit dem gemeinsam mit US-Dramatiker Sam Shepard verfassten Brownsville Girl einen seiner besten Songs.

Als Dylan 1989 mit dem atmosphärischen, von Daniel Lanois in New Orleans produzierten Album Oh Mercy und den unterschätzten Kinderreim-Variationen von Under the Red Sky ein Zwischenhoch erreicht, hat er seinen kreativen Fokus bereits auf Jahre hinaus vom Studio auf die Konzertbühne verlagert. Anfang der 90er-Jahre spielt sich Dylan landauf, landab mit der besten Live-Band seiner zweiten Karrierehälfte, aber ohne neue Songs durch ein pralles Liederbuch. Ein 1994 aufgenommenes, jetzt remastertes MTV Unplugged-Album liefert wie fast alle in der Box enthaltenen offiziellen Livealben nur schale Eindrücke vom lustvollen Dekonstruktivismus Dylans.

Statt in ein konventionelles Tonstudio zieht sich Dylan in jener Zeit in sein eigenes Garagenstudio zurück und taucht wie am Anfang seiner Karriere allein mit der Akustikgitarre in die wundersame Welt der Folk- und Blues-Songs ein, in eine Welt, für die der US-Kritiker Greil Marcus den Begriff "old weird America" prägt. Mit den geglückten, aber unkommerziellen Soloalben Good As I Been to You und World Gone Wrong verschwindet Dylan weitgehend vom Medienradar, auf dem er 1997 zuerst mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung, schließlich mit seinen ersten neuen Songs seit sieben Jahren wieder aufscheint.

Das mit Grammys überschüttete Album Time Out of Mind markiert den Beginn eines großteils euphorisch rezipierten Spätwerks. An die Stelle klassischer Songerzählungen sind seither Songmontagen getreten, für die sich Dylan unterschiedlichster Quellen bedient, die von Folk- und Blues-Songs über Bürgerkriegslyrik und Ovid-Zitate bis zum Yakuza-Roman reichen.

Beeindruckendes Spätwerk

Nicht bei allen Alben zeitigte dieses Konstruktionsprinzip derart überzeugende Ergebnisse wie 2001 auf "Love and Theft", mit dessen Titel Dylan Plagiatsvorwürfe ironisiert. So ächzen die vorzugsweise auf Blues-Schemata basierenden Songs des 2012 erschienenen und bereits vorab mit Jubelchören begrüßten Albums Tempest mitunter unter den Textmassen und lassen das ansteckende Musikantentum des Vorgängers Together Through Life vermissen.

In Summe ergeben die von Dylan unter dem Alias Jack Frost selbst produzierten und mit seiner bewährten Tour-Band eingespielten Alben dennoch ein beeindruckendes Spätwerk, das neben den kanonisierten Klassikern der 60er- und 70er-Jahre den Hauptfundus für Dylans anhaltende Konzertaktivitäten darstellt. Dylan hat sich Songs zurechtgeschneidert, die einem verringerten Stimmumfang, aber ungebrochenen Phrasierungskünsten Rechnung tragen. Zu den vielfältigen Stimmen, deren Metamorphosen auf der Complete Album Collection zu erleben sind, hat sich eine ausdrucksstarke Altersstimme hinzugesellt.

Jahrelang ließ Dylan zum Auftakt seiner Konzerte eine journalistische Kurzbiografie rezitieren, die vom "Columbia Recording Artist" erzählt, der, längst abgeschrieben, Ende der 90er plötzlich in die Gänge kommt und einige seiner stärksten Arbeiten veröffentlicht.

Auf solch offensichtliche Gesten verzichtet Dylan mittlerweile und stellt nicht Klassiker, sondern fast nur aktuelle Songs ins Zentrum des Bühnengeschehens. Anders als die sich vor Weihnachten mit CD-Boxen aufbäumende Musikindustrie scheint es Dylan mit dem Titel D. A. Pennebakers berühmter Filmdoku über ihn zu halten: Don't look back. (Karl Gedlicka, DER STANDARD, 4.12.2013)