Nirgendwo anders als in Wien darf man Freuds Jünger auf den Lehrmeister einschwören. Jacques Lacan (1901-1981) hielt seinen Vortrag über Das Freudsche Ding 1955 tatsächlich an der Neuropsychiatrischen Universitätsklinik in Wien. Ein obskurer Psychoanalytiker aus Paris liest den übrigen Freudianern, darunter größten Kapazitäten, die Leviten. Tatsächlich gleicht die Rückkehr nach Wien einem Putschversuch. Lacan selbst spricht von "Umsturz".

Er inszeniert seinen Überfall auf das Erbe Freuds mit strategischem Geschick. Er erhebt sich zum einzig legitimen Nachfolger des Toten. Zugleich ruft er allen übrigen Psychoanalytikern zu: Werdet wesentlich. Vergesst den Heilungszweck. Begreift Freud als denjenigen Denker, der das Ganze der Wahrheit ins Auge gefasst hat.

Was vergessen scheint, ist darum noch lange nicht verschwunden. Die Wiederkehr des Verdrängten versetzt jeden, dem es um die Freilegung der Wahrheit geht, in Unruhe. Die Psychoanalyse hat in den wenigen Jahren nach Freuds Tod 1939 keine besonders erfreuliche Entwicklung genommen. Lacans Sorge um die im Verschwinden begriffene Wahrheit beruft sich auf Freud. Der Sinn einer Rückkehr zu Freud, sagt Lacan, "das ist eine Rückkehr zum Sinn Freuds". Wahr wäre darum noch nicht, was jemand - womöglich in bester Absicht - als Wahrheit äußert. Wahr wie der Trieb sind die Widerstände, die ihn von seiner Bestimmung ablenken. Handlungen, die scheitern, belohnen häufig gerade diejenigen Wünsche, die uneingestanden bleiben. Die Wahrheit, sagt Lacan, holt "euch ein im Versehen, dem ihr nicht entfliehen könnt".

Die Unverfügbarkeit des Unbewussten bleibt Sigmund Freuds epochale Entdeckung. Nur ist die Wahrheit eben immer nur im buchstäblichen Sinn zu verstehen oder zu begreifen. Das Unbewusste ist wie eine Sprache strukturiert. Bloß weil Symptome existieren oder die Wahrheit sich durch "Fehlleistungen" kundgibt, ist sie deswegen noch nicht irrelevant.

Lacan: "Kleopatras Nase hat den Lauf der Welt nur verändert, weil sie in ihren Diskurs eingegangen ist, denn man konnte sie nach Belieben verkürzen oder verlängern, nur musste sie eine sprechende Nase sein." Wer das Sinnangebot der Psychoanalyse annimmt, ist im Wesentlichen Sprachforscher. Die Wahrheit sagt: "Ich spreche." Dem Zwang zur (sprachlichen) Symbolisierung entgeht niemand, auch derjenige nicht, der sich lieber "natürlich" ausgedrückt hätte.

Jacques Lacans Theorie von der Triade, die unser Weltbegreifen ausmacht: das Symbolische, das Imaginäre, das Reale, ist in seinem Wiener Vortrag bereits angelegt. "Wo Es war, soll Ich werden", benennt er jenen Prozess der Signifizierung, der durch uranfängliche Mängel überhaupt erst in Bewegung gesetzt wird. Das Grauen der Ich-Bildung besteht in der Erkenntnis, Identifizierungen vornehmen zu müssen, denen unser "Ich" nicht genügt. Zugleich ist das schöne, schmeichelnde Bild von der Innerlichkeit des menschlichen Subjekts nicht zu retten. Mit der Psychoanalyse als Serviceeinrichtung hat Lacans Denken nichts am Hut. Wo Freud war, sollte Lacan werden: in Wien, in Paris, auf der ganzen Welt. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 12.12.2013)