Die Übersetzung an die Ostküste ging nach all den überwundenen Hürden unerwartet glatt, mit einzigartigen Blicken auf das vom kalten Ostgrönlandstrom dominierte Berg- und Fjordland. Würden wir hier wieder so gut vorankommen?

Foto: Christoph Ruhsam

Die Küste ist kälter und wilder als an der, vom Inlandeis abgerundeten und daher sanfteren Westküstenlandschaft. Wie würden wir von Tassilaq, dem Hauptort, der erst 1893 entdeckten Ansiedlung der Ostgrönländischen Inuit, nach Kummiut kommen, das ca. 60 Kilometer tief im Fjordinneren unser neuer Ausgangspunkt sein sollte?

Foto: Christoph Ruhsam
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Wir schlenderten durch den vom Hundeheulen gebeutelten Ort und wurden im lokalen Hotel, das in dänischer Hand war, fündig. Der Besitzer war auch Kapitän eines traditionellen Holzbootes mit Segel und Dieselmotor und musste eine Schweizer Expedition aus der Nähe unseres Ausgangsplatzes abholen – heute Nacht. Wir könnten einfach mitkommen. Und schon tuckerten wir beschaulich viele Stunden durch eisschollenbesetze Fjorde, vorbei an wilden Bergspitzen und Gletschern.

Foto: Christoph Ruhsam
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In Kummiut stellte sich heraus, dass die Expedition einen großen Teil der Ausrüstung im Inneren des Ammassalikfjordes, dem Tasilaq-Seitenarm, der auf unserer Route lag, zur Verschiffung bereit gestellt hatte.

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Somit bekamen wir die unerwartete Möglichkeit, einen Tagesmarsch einzusparen, was uns als Reserve für Unerwartetes willkommen war. Kurz vor Mitternacht wurden wir dort mit dem Beiboot an Land abgesetzt und halfen, die Expeditionstonnen der Schweizer Expedition zu verladen. Zum Abschied ertönte das Signalhorn des Schiffes und wir winkten der Besatzung und dankten für die freundliche Aufnahme. Unsere zweite Tour ohne Möglichkeit eines Rückzugs begann. Genau an diesem Tag wurde in unserer Nähe von einem Inuit ein Eisbär erlegt – wir würden Gott sei Dank entlang der ganzen Route keinen zu Gesicht bekommen.

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Entführung in artkische Landschaften

Wir wurden entführt in wunderbare arktische Landschaften: Entlang von tief einschneidenden, engen Fjorden mit reißenden Flüssen, die von den mittlerweile nicht mehr bis auf Meeresniveau vorstoßenden Gletschern Unmengen an milchig trübem, eisig kaltem Wasser dem Meer zuführten. In den Verlandungszonen vor den Gletscherfronten unterhalb der "Trillingerne" – den 2096 Meter hohen, dreizackigen Felsnadeln Ostgrönlands – gerieten wir in Treibsand, der uns in die kalte Tiefe saugten wollte, uns aber nur die Gummistiefel auszog. Durch gegenseitige Hilfe fanden wir aus dem Sandlabyrinth einen Weg ans andere Ufer.

Foto: Christoph Ruhsam
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Zur Geltscherfront des unglaublich langen Midgaardgletschers konnten wir nicht vordringen. Der Gletscher kommt durch ein Tälerlabyrinth vom 70 Kilometer entfernten Inlandeis, hatte sich aber gegenüber dem Gletscherstand unserer Gebietskarte innerhalb von 50 Jahren um geschätzte 20 Kilometer zurückgezogen, das sind ca. 400 Meter pro Jahr auf einer Breite von 5 Kilometern. Enorme Eismengen gehen da verloren! Ich stieg hoch auf einen Vorberg um den Midgaardgletscher dennoch überblicken zu können. Ich hatte Einblicke in das Schweizerland, die massiven Seitenmoränen, die wie Raupenspuren den Fjordrand umgestalteten und für uns auf diese Distanz unüberwindbar wurden.

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Entlang des Sermilikfjordes ging es tagelang bei gutem Wetter und spiegelglattem Meer die Eisbergstraße entlang.

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Auf einer weiten Ebene am Meeresufer gelegen, stießen wir auf eine Inuit Jagdhütte, die mit übelriechenden Robbenfettresten schon aus der Ferne von unseren Nasen geortet wurde. Ein bunter Abfallhaufen und viele Plastikreste umgaben die Hütte. Der an der Hütte baumelnde Rentierkopf erinnerte an die Zeiten, da noch alles aus tierischen Produkten hergestellt wurde und nach jahrelangem Gebrauch sich wieder in der Natur auflöste – die Plastikreste hingegen werden auch noch in hundert Jahren hier liegen. "Plastic Planet", auch hier am absoluten Rande der Zivilisation.

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Nachts wurde es mit Minusgraden empfindlich kalt, tagsüber aber wärmte die Sonne und verführte uns eines Abends sogar bei 8°C Lufttemperatur zu einem Eismeerbad: Wir schwammen johlend zu den Eisbergen einer sandigen Bucht, die wir, bevor sie an der Wasseroberfläche greifbar wurden, schon vorher mit den Beinen unter dem Wasser berührt hatten. Lange hielten wir das wenige Plusgrade kalte Fjordwasser nicht aus, aber unsere Seelen sogen dankbar diese Erfahrung von Unberührtheit auf.

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Um ein Stück Fjord abzukürzen, zogen wir ein Tal ins Landesinnere hinein, bis uns ein großer See den Weg versperrte. Zweifel über unsere Position kamen auf, da er nicht auf der Landkarte verzeichnet war, bis ich überzeugt war, dass die Karte einfach falsch war. Nun wussten wir es besser und korrigierten unsere Karte entsprechend. Heute kann man auf Google Maps einfach im Vorhinein fast jeden Winkel der Erde beobachten und findet somit auch auf Sommersatellitenbildern diesen See.

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In Tiniteqilaq streiften wir durch die lose Ansammlung von bunten Bilderbuchholzhäusern.

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Dazwischen spielten Inuitkinder mit einem selbstfabrizierten Wägelchen, während die Erwachsenen bei unserem Anblick rasch in ihren Häusern verschwanden. Wir mussten um eine Übersetzung auf die Ammassalik-Insel ersuchen, die ca. 500 Meter hinter dem Meeresarm aus dem Wasser steigt. Niemand wollte und konnte mit uns sprechen. Erst mit Hilfe von dänischen Arbeitern, die ein Holzhaus errichteten, konnten wir auf Englisch unser Anliegen erläutern.

Sie würden bis morgen versuchen jemanden zu organisieren. Auf dem Weg zu unserem Zeltplatz kamen wir an der Müllhalde des Dorfes vorbei, auf dem die unverbrennbaren Reste der letzten Jahrzehnte lagen. Am Morgen ging es zurück, um das Boot zu erwarten. Das kam aber nicht – imaqa, aber ein Inuit streifte unseren Weg und verstand unsere Gestikulationen. Sein Boot lag nicht weit entfernt im Hafen und die letzte Etappe war gesichert. Auf dieser mussten wir eine ausgedehnte Eiskappe überqueren, bis wir durch eiszeitliche Täler die Fjorde von Tasilaq beleuchtet durch einen arktischen Mond sahen.


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Es wurde schon etwas dunkel, die langen Sommernächte begannen sich dem Ende zu zu neigen. Und beim Einzug in Tasiilaq nach elf Tagen in den Fjorden Ostgrönlands, wurden Ursis lange Zöpfe von Inuitfrauen angegriffen und bewundert. Waren wir von einem anderen Planeten? Nein, wir freuten uns über die freundliche Aufnahme, und bedankten uns mit Mimik und Gesten.

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Wir hatten noch einige Tage in Tasilaaq Zeit in das Leben der Ostgrönländer Einblick zu bekommen, die – durch die späten Kontakte mit Europäern – erst ab dem Ende des 19. Jhdts. noch viel stärker das ursprüngliche Inuiterbe in sich tragen, als das in Westgrönland der Fall ist. Die meisten Männer leben von der Jagd auf Robben und teilweise auch Wale und bieten diese am Hafen spontan zum Verkauf an.

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Am letzten Abend standen wir in der Kälte der beginnenden Polarnacht vor den bunten Häusern von Kulusuk und hörten das Heulen der Schlittenhunde. Wir waren in Sicherheit, am Ende unseres Traumes von Grönlands ästhetischer Landschaft, Wildnis, Weite und einem freien Leben. Es waren intensive Tage im Lebensflow, in denen Zeit eine geringe oder gar keine Rolle gespielt hatte und uns sehr gegenwärtig hat leben lassen – im Jetzt. Etwas, wonach viele Menschen durch meditative Übungen verstärkt suchen. Die Reise wird nie einen wirklichen Schlusspunkt finden, weil die Erfahrungen in uns weiterleben und helfen, die Nebelschwaden über unseren persönlichen und gesellschaftlichen Lügengebäuden zu lichten.

Foto: Christoph Ruhsam
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Durch die Hingabe an dieses Ereignis und das innere Vertrauen, dass uns ein Weg durch alle Unwägbarkeiten führen wird, durften wir die lebendige Realität der spirituellen Dimension von unberührter Landschaft erfahren. Wir erkannten, dass alle zuvor erlebte Nervosität und Angst nur durch unseren Verstand in unseren Köpfen existierte. Im Jetzt gab es kein Problem, wir mussten nur vertrauen und gegenwärtig genug sein. Die Welt braucht diese unberührten Gebiete für das Wohlergehen einer über alle Grenzen wachsenden Menschheit. (Christoph Ruhsam, derStandard.at, 20.12.2013)

Link: www.pure-landscapes.net

Weiterlesen:

Grönland Teil I

Grönland Teil II