Paolo Caneppele, der Leiter der Filmmuseum-Sammlung.

Foto: Robert Newald

Siegfried Mattl, der Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte, mit dem das Filmmuseum beim Projekt "StadtFilmWien" zusammenarbeitet.

Foto: Robert Newald

Anlässlich des Jubiläums "50 Jahre Österreichisches Filmmuseum" zeigen derStandard.at und das Filmmuseum in einer heute startenden Serie historische Amateurfilme, Wochenschauen, Werbe- und Industriefilme sowie Dokumentationen, die zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den 1970er-Jahren in Wien gedreht wurden.

Alle zwei Wochen stellen wir im Schwerpunkt "Stadtfilme" einen dieser Filme samt historischer Einordnung vor – zum Teil sind sie bereits auf der Plattform StadtFilmWien erschienen, zum Teil sind es bisher unveröffentlichte Aufnahmen aus Archiven und Privatsammlungen.

Vienne en Tramway
In der Pilotfolge der Serie "Stadtfilme" zeigen wir mit "Vienne en Tramway" eine Straßenbahnfahrt durch Wien kurz nach Einführung der "Elektrischen":
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Zum Serienstart baten wir Paolo Caneppele, den Archivleiter des Filmmuseums, und Siegfried Mattl, den Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte, zum Gespräch über die sich ändernde Rolle des Archivars durch Internet und Smartphones, das Wienerische im Film und Verkehrspolizisten, die in weißen Handschuhen die Stadt dirigieren.

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derStandard.at: Frühe Filmdokumente umweht die Aura des Einzigartigen. Seit ein paar Jahren hingegen halten Handykameras jedes gewöhnliche oder ungewöhnliche Ereignis fest. Wird man in hundert Jahren Amateurfilme von heute noch als etwas Besonderes wahrnehmen können?

Caneppele: Historiker beklagen sich oft, aber in zwei Situationen haben sie das Recht dazu: Wenn es gar keine Quellen gibt und wenn es zu viele Quellen gibt. Die Masse an Informationen macht die Arbeit nahezu unmöglich. Gleichzeitig muss man sagen, dass wir heute noch gar nicht wissen, wie viele von den Filmen wirklich die Zeit überstehen. Für die digitale Langzeitspeicherung gibt es noch kein System. Vieles wird verschwinden – zum Glück.

Mattl: In Nischen könnte dieses digitale Vergessen vielleicht Anlass für eine Renaissance des Analogen sein. Den Realismus dieses Materials versucht ja auch das Mainstreamkino mit seinen pseudoamateurischen Montagen wieder einzufangen.

Caneppele: Auch in der Werbung werden diese computergenerierten Kratzer eingesetzt. Es soll gesagt werden: Seht, wir waren vor Ort! Diese Retro-Ästhetik findet sich mittlerweile oft, auch die Wiederentdeckung der Lomo- und Polaroidkameras weist auf diese technologische Nostalgie hin.

derStandard.at: Hat die heute immer verfügbare Aufnahmemöglichkeit Einfluss auf die Qualität der Filme?

Caneppele: Mit der Steigerung der Menge ging sicher eine Verminderung der Qualität einher. Amateurfilmer der 1920er- oder 1930er-Jahre haben sich Gedanken über Schärfenbereich, Perspektive und Schnitt gemacht. Manche haben es dabei übertrieben, aber selbst das hatte einen gewissen Reiz. Heute schaltet man die Kamera ein und nimmt auf – egal wie, wo und warum.

Mattl: Das Filmen war früher ja sehr teuer, bis in die 1950er-Jahre hinein. Die Filmer mussten also genau wissen, was sie tun und die Aufnahmen im Kopf antizipieren.


Siegfried Mattl (rechts): "Prater und Kamera: Liebesbeziehung der Dinge" (Foto: Newald)

derStandard.at: Die Nachrichtensendungen, Werbespots, Kurzdokus und Laienfilme in Ihrer Datenbank nennen Sie häufig "ephemere" Filme, also "flüchtig" oder "vergänglich". Worin liegt ihre Bedeutung, verglichen mit der "großen", beständigen Filmkunst?

Mattl: Dieser Begriff deckt vor allem einen breiten Bogen an Typologien und potenziell alle gesellschaftlichen Themen ab. Die "orphan films", "verwaiste Filme", wie sie in Amerika auch genannt werden, zeigen vielleicht nicht die Spitzenleistungen im Medium, sondern das Gewebe dahinter – die dichte Alltagskultur, wie sie uns eigentlich trägt. In großen Filmen oder auch Romanen werden wir mit einem abgeschlossenen Raum konfrontiert, den wir zur Gänze verstehen. Die Wirklichkeit einer Stadt geht natürlich darüber hinaus, und dieses Ausgeschlossene wird in ephemeren Filmen gezeigt und damit auch leichter erklärbar und verständlich.

Caneppele: Diese "kleinen" Filme machen alternative Sichtweisen auf Ereignisse möglich. In der Musik gibt es das Konzept des canto und controcanto: Gesang und Gegengesang. Genauso nähern sich Amateur- und Profifilme manchmal parallel, wenn auch schwankend, demselben Thema an, dann widersprechen sie sich wieder. Aber sie bringen immer eine neue Perspektive.

derStandard.at: Wie haben Internet und Digitalisierung das Archivwesen verändert?

Caneppele: Die Archive haben erst spät die Möglichkeit des Digitalen erkannt und nur reflexartig reagiert. Sie waren nicht die handelnden Spieler dieser Bewegung und versuchen jetzt, auf diese Schiene aufzuspringen – mit allen Problemen. Die sind einerseits rechtlicher, andererseits zeitlicher und damit finanzieller Natur. Die Digitalisierung ist enorm teuer und man muss immer Prioritäten setzen, welche Filme man auf diese Weise konserviert.

Mattl: Der US-amerikanische Sammler Rick Prelinger hat als einer der ersten begonnen, sein privates Filmarchiv online zu stellen. Er hat damit das Leben, das vor 30 Jahren in seiner Heimatstadt Detroit herrschte, der Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt. In der Folge hat die Technologie zu einer extremen Popularisierung solcher Filme beigetragen.

derStandard.at: Erleichtert das Netz auch dem Archivar, der Öffentlichkeit seine Expertise über das Material zu vermitteln?

Mattl: Sicher ist auch die Kontextualisierung leichter geworden und ich glaube, dass das wichtig ist. Zu sagen: Schau dir an, was diese Person mit der Kamera macht, etwa auf der filmästhetischen Seite. Wir wollen niemanden mit dem Zeigefinger belehren, sondern Werkzeuge zur Verfügung stellen, um die vielen unterschiedlichen Schichten, die in diesen Filmen stecken, abzutragen.

Caneppele: Was ich am Internet ablehne, ist es, unsere gefilmten Erinnerungen dem wieder modischen Bewertungssystem der Gladiatoren, Daumen hoch oder runter, leben oder sterben, preiszugeben, ohne mitzuliefern, zu welchem Zweck und in welcher Situation diese Filme entstanden sind.


Paolo Caneppele (links): "Heute filmt man – egal wie, wo und warum." (Foto: Newald)

derStandard.at: Auch für mich als Nicht-Wiener ist es faszinierend zu sehen, wie die Stadt früher ausgesehen hat, und wie sie zu dem geworden ist, was ich als Zugezogener kennengelernt habe. Wie sehr taugen historische Bilder als Identifikationsquelle für die alten und neuen Bewohner der Stadt?

Mattl: Dazu müssen Filme entweder eine Attraktion oder Faszination – wir nennen das auch Punktum – erfüllen, oder durch die Alltagserfahrung des Zusehers für ihn "lesbar" werden. Wenn das zutrifft, können sie zu einer neuen Sicht auf gewisse Stadträume beitragen. Oder zumindest zu einer Verwunderung, dass die Dinge vor 30, 60 oder 90 Jahren anders gelaufen sind als heute.

derStandard.at: Haben Sie dazu ein Beispiel?

Mattl: In der 1950ern wimmelt es plötzlich von Verkehrsunfällen. Im Film kann man die ganze jüngere Geschichte der Stadt an dem Bemühen ablesen, die Nutzung des Raums zu regulieren. Sei es mit technischen Anlagen, Signalen oder Polizisten, die mit ihren weißen, eleganten Handschuhen den Verkehr regeln – wie Dirigenten der Stadt. Wir können mit diesen Filmen auch Ethnologie oder Anthropologie betreiben und analysieren, wie wir uns seit dem Dreh persönlich oder gesellschaftlich über Generationen mitverändert haben.

derStandard.at: Kann man an ephemeren Filmen aus Wien etwas "genuin Wienerisches" erkennen? Das Klischee vom Morbiden etwa oder vom Raunzertum?

Caneppele: Im Gegenteil, Tod und Trauer werden kaum behandelt, Begräbnisse sind fast nie zu sehen. Genauso selten sieht man Leute, die streiten. Es sind fast immer glückliche, warmherzige Momente bei Familienfeiern oder im Urlaub. Das ist ein starkes Motiv: Die Wiener fahren gern weg und kehren mit Filmaufnahmen im Gepäck genauso gern wieder zurück.

Mattl: Bei Werbefilmen wurde auch öfter mit dem Wiener Dialekt und dem Schmäh gespielt. Was mir jedenfalls aufgefallen ist, ist die relativ hohe Energie, die Amateurfilmer in dieser Stadt darauf verwendet haben, Chronisten ihrer Zeit zu sein – beim Bau der Ringstraßenpassagen etwa. Und einen Schauplatz gibt es, der sich in allen Formen durch die Zeit zieht: den Prater. Prater und Kamera, das ist fast eine Liebesbeziehung der Dinge.

derStandard.at: Im Prater wurde auch ein Teil des Films "Vienne en Tramway" gedreht. Warum haben sie diese unkommentierte Straßenbahnfahrt durch das Wien des Jahres 1906 als Eröffnungsstück für die Serie ausgewählt?

Mattl: Ein zentrales Thema früher Filmaufnahmen war es, die Stadt visuell erlebbar zu machen. "Vienne en Tramway" steht dafür exemplarisch. Die Leute sind hergegangen und haben gesagt: Ich kann die Stadt über eine einzige Kameraposition repräsentieren, und alles was in ihr passieren wird, lasse ich offen. Die Pathé-Brüder waren nicht die ersten mit dieser schönen Idee. Tatsächlich bezahlten damals die Kinobesucher in vielen Städten der Welt, nur um zu sehen, wie das Alltagsleben in einer jeweils anderen, fernen Stadt abläuft. Da wird eine urbane Qualität eingefangen und gleichzeitig gezeigt: Film, das ist die Welt. (Michael Matzenberger, derStandard.at, 17.2.2014)