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Eugene O'Neill hat auf Cape Cod als unbekannter Alkoholiker mühsam sein erstes Stück zu Papier gebracht, Tennessee Williams als weltberühmter Alkoholiker mühsam sein letztes Stück nicht fertiggestellt.

Foto: Corbis

Ilija Trojanow, geb. 1965 in Sofia, wuchs in Kenia auf und lebt als Schriftsteller in Wien. Zuletzt erschien von ihm sein Roman "Eistau" (2011) im Hanser-Verlag. Dies ist der (gekürzte) Essay als Vorwort zu der reiseerzählung "Cape Cod" von Henry David Thoreau, heruasgegeben von Klaus Bonn, die am 27. 2. im Residenz-Verlag und zum ersten mal auf Deutsch erscheint.

Foto: Thomas Dorn

Als ich eines Abends spät über die langgezogene Landzunge von Cape Cod fuhr, vor mir einen fast vollen Mond und im Ohr einen Crooner aus längst vergangener Zeit, wurde ich von einem gleißenden Blaulicht mit Sirene gestoppt. Nachdem ich Führerschein und Fahrzeugpapiere überreicht hatte, fragte mich der Polizist, was ich auf Cape Cod vorhabe. Die Halbinsel erkunden, antwortete ich, in den Fußstapfen von Henry David Thoreau, der ist vor mehr als 150 Jahren von Sandwich nach Provincetown gewandert. Die ganze Strecke zu Fuß? Ich nickte. Was haben Sie’s dann so eilig, meinte der Polizist. Langsamer fuhr ich weiter.

Im Autoradio wurde die Nachricht des Tages verkündet: Ein junger Mann sei mit zwei Kilogramm Marihuana erwischt worden. Später im Hotel, deutete der Manager auf den Safe, nicht ohne zu kommentieren, es gebe hier keine Kriminalität, nur wollten das die Gäste — aus einer anderen, bösen Welt kommend — nicht wahrhaben. Wie ich später herausfand, hatte der Mann nur eine Ausnahme unterschlagen, den endemischen Fahrradklau. Vielleicht weil das Jahr in den November gerutscht und niemand auf einem Zweirad unterwegs war.

Der Unterschied zwischen Sommer und Winter ist auf Cape Cod noch ausgeprägter als anderswo. Zwischen Ende Juni und Anfang September sind die Parkplätze des Paradieses schon um zehn Uhr in der Früh belegt, die Strände gemäß einer prägnanten soziokulturellen Ordnung besetzt, manche den Männern vorbehalten, andere den Frauen. Es gelte die Regel, schreibt Michael Cunningham, dass die Schwulen nur in Badehose und mit einem Handtuch zum Strand gingen, die Lesben hingegen so viel Hausrat hinschleppten wie sie nur könnten. Natürlich gibt es auch Strandabschnitte für Familien, für Sandburgenbauer und Grillmeister, für jene, die keinem Körperkult huldigen, und für jene, die sich eher nach Sonne als nach Sex sehnen.

Freunde in New York hatten mich gewarnt: "Watch your arse!" Sie sprachen von angeblich 90 Prozent Homosexuellen in Provincetown. In der Phantasie manch eines braven Heteros sind die Dünen um das Städtchen herum Sodom und Gomorra en miniature, weil manche Einheimischen, aber auch Touristen zwischen Wasser und Gras wilden Sex treiben.

An einem glasklaren Novembermorgen erwartete mich ein einziges Fahrzeug auf dem asphaltierten Areal hinter dem Herring Cove Beach. Ich parkte meinen Wagen ungefähr hundert Meter davon entfernt und machte mich auf, allein bis auf die Spuren eines Fuchses (es gibt auch Waschbären, Beutelratten und Kojoten — "Nicht füttern!" —, nachts ziehen Stinktiere durch die Straßen), die meinen Weg kreuzten, sobald mein Blick vom Pfad abschweifte. Denn an den Stadtgrenzen von Provincetown, Truro, Wellfleet und Eastham beginnt der Cape Cod National Seashore, ein unter der Ägide von John F. Kennedy eingerichtetes Reservat. Den Präsidenten verband eine intensive Beziehung zu Cape Cod, in Hyannis gibt es ein Museum zu seinen Ehren und auf der Halbinsel wurde des fünfzigsten Todestages seiner Ermordung besonders intensiv gedacht (und bei der Beerdigung von Jacqueline Kennedy Onassis wurde Edna St. Vincent Millays Gedicht "Memory of Cape Cod“ vorgetragen). 

Der Tag, der am Hafen mit einer roten Explosion begonnen hatte, setzte sich in mondartiger Dünenlandschaft mit einer Reduktion der Farben fort. Vom unvergänglichen Grün der vereinzelten Nadelbäume abgesehen war alles karg, keine Blätter im Buschwerk, keinen Boden außer dem dunklen Grau des asphaltierten Pfades und dem hellen Grau des Sands. Über all dem der klarste Himmel, der jemals über einen einsamen Wanderer gespannt wurde. Einst wuchsen größere Bäume, aber frühe Siedler haben sie gefällt und Kiefern gepflanzt, die in dieser Umgebung offensichtlich nur sehr zögerlich wachsen. Manchenorts gibt es Sand und nichts als Sand. Ich komme mir in meinem neongelben Jogginganzug laut vor und sehne mich nach Mimikry. 

Der Pfad, auch für Fahrradfahrer gedacht, ist nicht nur asphaltiert, sondern auch mit einem durchgängigen gelben Strich in der Mitte versehen. Unvermittelt stößt der Wanderer auf ein großes Warnschild, das die Verengung des Pfades verkündet, und dann auf eine riesige Ampel, die durch Sonnenkraft zum Leuchten gebracht wird - ein Übermaß an zivilisatorischem Reglement, das Thoreau mit Ingrimm verspottet hätte. Der Pfad führt am Flughafen vorbei (zu viel Freiraum darf man der Natur nicht lassen), der einzigen Möglichkeit, den sommerlichen Staus auf der Hauptstraße durch Cape Cod zu entgehen, und weiter zum Race Point Beach.

Dort erschließt sich der merkwürdige Beginn dieser Reisebeschreibung von Henry David Thoreau. Am hölzernen Life Saver House, umringt von hohen Dünen, wird dokumentiert, wie viele Schiffe vor Cape Cod zerschellt und versunken sind. Havarien gehörten zum Alltag. Die Bergung der Passagiere und Matrosen war eine gefährliche Aufgabe, denn die kleinen Rettungsboote mussten durch die gewaltige Brandung ins Meer hinausgeschoben werden. Manch ein Rettungsversuch scheiterte daran, dass die Boote immer wieder an den Strand geworfen wurden.

Der letzte Teil des ordentlichen Pfads führt durch den Beech Forest – eine baumdichte Überraschung nach der bisherigen, kargen Landschaft. Die Buchen formen natürliche Alleen und Promenaden, an manchen Stellen sind Lichtungen entstanden, auf denen im Sommer geheiratet wird, umgeben von Bäumen, die vom Menschen markiert wurden, intime Brandmarkungen, Bob liebt Sue, Jack und Jill waren hier, und hinter jedem Stamm scheint sich ein Kind zu verstecken.

Übernachtet hatte ich in Provincetown. P-Town (jeder, der dort war, darf das Städtchen so nennen, wurde mir versichert) ist auf Sand gebaut, wortwörtlich. Die Häuser — meist grau, weitaus seltener in weißblau, mit Holzschindeln und einer langgezogenen Veranda — haben kein Fundament, es würde einen nicht wundern, wenn sie hierher zur Sommerfrische von einem jener gewaltigen amerikanischen Trucks über das Land transportiert werden würden, wie ein Boot, das zu einer neuen Marina geschleppt wird. Die Erde selbst ist ein Einwanderer, hergebracht als Ballast in den Laderäumen von Schiffen, die schwer beladen mit Salz wieder gen Europa aufbrachen, so dass in manch einem alteingesessenen Garten die winterharten Rhododendren auf europäischer Scholle wachsen. Immer wieder haben sich die Einheimischen gefragt, ob es nicht ein Fehler war, sich hier anzusiedeln, und sind doch geblieben.

Mitten im Städtchen erhebt sich ein Turm, eine jener Bauten, die so fehl am Platz sind, dass man hofft, sie würden sich im nächsten Augenblick voller Einsicht in diesen Sachverhalt aus dem Staub machen. Der Torre del Mangia aus Siena wurde in grauer Einfalt nachgebaut, erstaunlicherweise um die Pilgrim Fathers zu ehren. Denn P-Town ist Konkurrent in einem erinnerungskulturellen Kampf: so sehr allgemein bekannt ist, dass die Pilgerväter 1620 auf der Mayflower über den Atlantik segelten und Plymouth in Massachusetts gründeten, so wenig ist die Kunde verbreitet, dass sie zuerst in Cape Cod anlandeten, auch wenn Thoreau es ausgiebig beschreibt. Das ärgert die Lokalpatrioten schon seit längerem, aber trotz des toskanischen Turms und einer aufwendigen Gedenktafel inmitten des Kreisverkehrrondells am äußersten Ende des Städtchens, hat sich die korrekte historische Darstellung nicht durchsetzen können.

Thoreau besaß einen siebten Sinn für Absurditäten. Wäre er einige Jahre später durch Cape Cod gewandert, hätte er gewiss diese Anekdote über die Wehrhaftigkeit von Provincetown erzählt: Als der Sezessionskrieg ausbrach, fürchteten die Bürger des Städtchens einen Angriff der Konföderiertenarmee, weswegen sie auf jenem Zeigefinger gegenüber dem Hafen namens Long Point zwei sandige Festungen errichteten, eine jede ausgestattet mit einer Kanone. Tag und Nacht wachten die Männer der Stadt, hielten Ausschau nach einem Feind, der nie auftauchte, weswegen die Festungen im Volksmund Fort Useless und Fort Ridiculous getauft wurden.

Es gibt allerdings weder eine Erklärung noch eine Entschuldigung dafür, dass Thoreau den Friedhof in P-Town keines Wortes für würdig erachtet, obwohl es sich um einen der schönsten Friedhöfe der Welt handelt, die kleinen schmalen Grabsteine, die meist nur den Namen und die Lebensdaten mitteilen, über einige kleine Hügel verstreut. Kein Firlefanz, keine Eitelkeit. Zur sonnigen Mittagszeit wirkt es, als hätten sich die Toten zu einem Picknick eingefunden und sich mal in Grüppchen, mal in Pärchen, mal einzelgängerisch über den Rasen verteilt, den Namen nach überwiegend WASPs — Goodwin, Hopkins, Summer, Cooper, O’Neill, Whitney, Deyer, Butler, Cobb. P-Town ist weiterhin ein durch und durch weißes Städtchen. Ich habe durch die Schwingtür in der Küche meines Hotels einen einzigen Schwarzen erspäht und ihn später jamaikanisch fluchen gehört, aber ansonsten nur wettergegerbte Bleichgesichter erblickt; von der ethnischen Vielfalt der Großstädte Boston und New York keine Spur.

Cape Cod schaut aus wie der gekrümmte Arm bei einer Tai-Chi-Übung, das Landende bei Provincetown die Fingernägel einer gebeugten Hand, der National Seashore der gestreckte Unterarm und der Rest ein muskulöser Oberarm. Östlich von P-Town wird die Landzunge sehr schmal, rechts eine Häuserreihe, dahinter die Bucht, links Sanddünen, dahinter das offene Meer. Der Sand ist seit den Tagen von Thoreau domestiziert worden. Noch im 18. Jahrhundert haben Stürme diese Verbindung zur Außenwelt immer wieder weggeschwemmt, das Ende von Cape Cod wurde zu einer Insel, erreichbar nur mit Boot. Gesichert wirkt seine Existenz auch heute nicht. Ein Hurrikan, der hier zuschlägt, könnte dieses sandige Provisorium wegfegen, wie ein wütender Arm über einen reichlich gedeckten Picknicktisch. Es ist junges Land, geformt vor kaum mehr 10 000 Jahren, hier haben, wie Norman Mailer meint, "die eigenen Geister keine Wurzeln geschlagen".

Hinter dem Pilgrim Lake (man gibt sich nicht geschlagen!) führt ein Pfad zum ersten Brunnen, der, wie eine Tafel verkündet, die Pilgerväter mit frischem Wasser versorgte, genau an der Grenze zwischen bewachsenen Dünen und einem dichten Nadelwald, einem erstaunlich dichten Baldachin, das leuchtende Grün ein Kontrast zu den ansonsten eher ausgewaschenen Farben. Wenn die Sonne den Wald durchkämmt, tänzeln die Schatten um die Stämme herum, der Hintergrund offeriert gelegentlich einen Tupfer Meerblau. Am Wegrand benennen Schilder eine Flora, die zu dieser Jahreszeit — blüten- und blätterlos — schwer zu erkennen ist.

Truro — verschlafener als Wellfleet, weniger mondän als Provincetown — strahlt eine große Ruhe aus. Nirgendwo auf Cape Cod fühlte ich mich der Welt von Thoreau näher (denken wir uns Autos und Strommasten weg), im Zentrum der Kleinstadt liegen die Häuser im Schatten von Bäumen, in der Umgebung über die sanften Hügel versprengt. Wer bei dem Schild Highland Light abbiegt, wird kurz darauf das Motiv eines der berühmtesten Bilder von Edward Hopper von der Rückseite sehen. Immer wieder hat Hopper diesen Leuchtturm in Aquarell- und Ölfarben abgebildet. Wenn man ihn zum ersten Mal erblickt, erschrickt man fast über die Vertrautheit. Es hat den Eindruck, als hätte Edward Hopper, der sich 1930 mit seiner Frau Jo ein einfaches Haus mit großen Fenstern in South Truro nach eigenen Plänen erbauen ließ, ganz Cape Cod gemalt: die Dünen entlang der Küste, die Bäume bei Eastham, die Hügel in Truro, die Methodist Church in P-Town, Segler vor Wellfleet, einen verheißungsvollen "Cape Cod Morning" sowie einen bedrohlichen "Cape Cod Evening". Im Gegensatz zu seinen trostlosen Großstadtszenen strahlen diese Bilder von Straßen, Häusern und Landschaften auf der Halbinsel etwas Versöhnliches aus, eine Versöhnung zwischen den Elementen und den Bauten, so als wären die Häuser der Natur nicht mehr fremd. Sie hätten Thoreau gefallen, so wie umgekehrt Thoreau zu Hoppers Lieblingsautoren gehörte.

Der Leuchtturm auf der Anhöhe, heute um mehrere hundert Meter landeinwärts versetzt, weil die Küste abbricht (von den einstigen zehn Hektar Land sind nur noch vier übriggeblieben), wurde 1779 von George Washington in Auftrag gegeben, doch erst Mitte des 19. Jahrhunderts in Stein gebaut. "Nature grows by inches, but dies by feet." Eine Tafel fordert den Besucher auf, die Dünen am Steilabbruch nicht zu betreten. Eine ironisch anmutende Mahnung, denn wenn man sich umdreht, sieht man rechts vom Leuchtturm einen Golfplatz mit Spielbahnen, auf denen die Natur "by yards" gestorben ist.

Hopper war nicht der einzige kreative Eremit — Cape Cod zieht seit längerem Aussteiger, Exzentriker und Künstler an. In Truro hat John Dos Passos einen Teil seiner U.S.A.-Trilogie geschrieben, deren erster Band The 42nd Parallel betitelt ist, der Breitengrad, der durch Cape Cod Bay und Truro verläuft. Eugene O’Neill hat auf der Halbinsel als unbekannter Alkoholiker mühsam sein erstes Stück zu Papier gebracht, Tennessee Williams als weltberühmter Alkoholiker mühsam sein letztes Stück nicht fertiggestellt. Robert Motherwell und Mark Rothko haben sich hierher zurückgezogen, ebenso wie Edmund Wilson und Norman Mailer.

Auch Wissenschaftler: Weiter südlich — die Sanddünen erstrecken sich kilometerweit entlang des Atlantiks — befindet sich die Stelle, wo Guglielmo Marconi den ersten Telegraphen erprobte, die erste immaterielle Nachricht über den Ozean sendete. Das Gebäude ist inzwischen ins Meer gestürzt, doch ein Aussichtspunkt samt Gedenktafel erinnert an den vergeistigten Tüftler, der sicher war, dass seine Erfindung eines Tages auch die Kommunikation zwischen Lebenden und Toten ermöglichen würde.

Das jährliche Oyster Festival in Wellfleet hatte ich leider knapp verpasst, aber wie stolz das Städtchen auf diese Tradition ist, las ich von T-Shirts und Aufklebern ab. Wellfleet nimmt seine Meeresfrüchte weiterhin ernst, es hat sogar einen shellfish constable (Krustentierschutzmann) bestellt. Heute werden die Austern meist gezüchtet, im Hafen des Städtchens, im dortigen Watt, auf 80 zertifizierten Bänken. Wer Appetit und Abenteuerlust verspürt, kann aber weiterhin in Gummistiefeln im seichten Buchtwasser nach wilden Austern suchen. Westlich des Hafens liegt eine sich nach Süden zuspitzende kleinere Landzunge, Great Island genannt. Ein Pfad führt direkt an der Bucht entlang, entlang der grüngelb überwachsenen Dünen, die zu betreten verboten ist, erosion control area, please keep off, denn trotz Naturschutzgebiet ist das Ökosystem labil, es muss sich erholen vom Zugriff der Vertreter der abendländischen Zivilisation (die Pononakanits-Indianer, Teil der Wampanoag-Föderation, hatten jahrhundertlang dort gelebt, ohne die Ressourcen zu erschöpfen), die mit der üblichen Hingabe und Konzentration innerhalb weniger Jahre alle Wale harpunierten und alle Bäume fällten. Seitdem sind die Dünenköpfe kahl, der Wind onduliert den Sand, der Kampf gegen die Erosion ist ein mühsames Geschäft. Und es ist schwer, stundenlang im Sand zu laufen, die Füße sinken ein, der Wind bläst einem die Körner ins Gesicht, Thoreau, der ja - im Gegensatz zu mir — meist über Sand ging, muss eine hervorragende Kondition und einen starken Willen gehabt haben.

Niemand würde behaupten, dass Cape Cod überwältigend schön ist —wie etwa die Wüstenlandschaften im Südwesten der USA. Aber genau das macht seinen Reiz aus. Es ist Natur, die einen nicht überwältigt, die man zu Fuß gut bewältigen kann, jünger als das Menschengeschlecht, im Winter stürmisch, im Sommer sonnig, spürbar in Veränderung begriffen.

Als Henry David Thoreau Cape Cod durchwanderte, war er unbekannt, als sein Reisebericht erschien, war er tot, als das 20. Jahrhundert anbrach, war er so gut wie vergessen. Heute gilt er als ein Gigant der US-amerikanischen Literatur, ein Stilist vom Range Ralph Waldo Emersons, ein politischer Denker, der den zivilen Ungehorsam von Mahatma Gandhi, Martin Luther King und anderen inspirierte, ein Visionär, der die Umweltbewegung vorwegnahm (und auch unsere Zeit mit ihrer Vertreibung der Natur aus der Realität in die Welt der Begriffe: "Es gibt viele Herring-Flüsse auf dem Kap; bald werden es vielleicht mehr sein als die Heringe selbst.") Aber auch als etablierter Klassiker macht Thoreau es dem Leser nicht leicht. Eigenwilligkeit ist unter Autoren eine häufig anzutreffende Eigenschaft, vom Leser mal als Tugend, mal als Laster empfunden. Thoreau, dieser spöttische Dickkopf, setzt dem Üblichen noch eins drauf — manchmal liest sich "Cape Cod“ so, als würde der Autor uns nur sehr unwillig Einblick in seine Notizen gewähren.

Thoreau war von jungen Jahren an widerborstig. Er gab seine erste Arbeitsstelle als Lehrer — damals, in Zeiten einer Depression, ein seltener Segen — in seiner Heimatsstadt Concord auf, weil er sich weigerte, die Schüler mit Prügelstrafen zu maßregeln. Er benannte sich um, aus David Henry wurde Henry David, und beharrte darauf, auch wenn die Nachbarn und Bekannten ihn bis zu seinem Lebensende David Henry nannten. Er reagierte allergisch auf Autorität und Dummheit. Thoreau war ein freier Geist, und da solche dünn gesät sind, erschrecken wir, wenn wir einem begegnen, und stolpern bei der Lektüre über seine Eigenwilligkeiten. Thoreau irritiert und provoziert weiterhin. Doch in seinen Werken sind wertvolle Gedanken enthalten, wie Edelsteine in einer Druse, Einsichten, oft aus dem Augenblick geboren, leicht dahingeworfen und doch von beachtlicher Relevanz. Manch ein Einheimischer warnt, schreibt Thoreau in einer Szene dieses Buches, vor Haifischen. "Andere lachten über diese Geschichten, aber vielleicht konnten sie sich das leisten, weil sie nie irgendwo badeten." Für grundsätzliche Bademuffel ist "Cape Cod" als Lektüre wenig geeignet; alle anderen werden ihren Gefallen daran finden. (Ilija Trojanow, Album, DER STANDARD, 15./16.2.2014)