Die flussdurchquerende Russin: Das Wasser des Don ist modrig, nur ein Schlagschatten zeichnet sich ab, die Frau blickt zum Ufer ... auf der Rückseite des Fotos wird das grausame Geheimnis gelüftet.

Foto: Petra Bopp

Ich frage mich, ob die Zukunft meiner Generation in der Vergangenheit liegt, wie einmal behauptet wurde. Zumindest scheint mir selbst, dass wir aus dem Schatten der Väterwelt nicht herauskommen. Als hätte es der Layouter des Buchcovers Der Schatten des Fotografen geahnt, kombinierte er den Titel mit einer Fotografie, in der eine Frau den Schatten wirft, obwohl der Schatten eines Fotografen angekündigt wird. Um die Provokation des Covers zu verstehen, schlage ich vor, eine Weile das Foto zu betrachten:

Flusslandschaft an einem sonnigen Tag. Eine Frau mit hellem Kopftuch und gerafftem Rock watet dem nahen Ufer zu. Die Bewegung der Watenden hat einen leichten Wellengang hervorgerufen. Fast grelles, seitlich einfallendes Sonnenlicht wirft einen scharfen Schlagschatten. Eine bukolische Situation, ein Malersujet. Nach Art der Kunsthistoriker können wir die Diagonalen der Bewegungsrichtung der Frau und ihres Schattens beschreiben. Auch als Unterlage für Meditationsübungen taugt das Bild.

Ein junger Altphilologe (Jakob Moser, Junior Fellow am IFK) betrachtete es und erzählte mir von der Fabel des Hyginus. Dieser Schriftsteller der Antike war mir unbekannt. Wikipedia belehrte mich, dass von ihm im 2. Jahrhundert nach Christus eine Sammlung Fabulae herausgegeben worden sei, in denen er griechische Mythen für die römische Welt dolmetschte. Unter den Fabulae findet man die mythische Erzählung: Die Sorge geht über den Fluss.

Heidegger habe, so mein Student, in Sein und Zeit daran erinnert, und Hans Blumenberg habe sie später wieder aufgegriffen. Die Sorge geht Blumenberg zufolge über den Fluss, um auf ein Stück tonhaltigen Lehms zu stoßen, aus dem sich Leben formen lässt. Sie könnte doch, um auf Lehm zu stoßen, genauso gut am Fluss entlanggehen, wirft Blumenberg ein. Aber sie tut es nicht, weil sie ihr Spiegelbild im Wasser sehen will. Wir schweifen ab; die Betrachtung der Flusslandschaft mündet in gelehrten Assoziationen. Kommt sie darin zur Ruhe?

Das Wasser des Don ist modrig, es lässt kein Spiegelbild zu. Nur der Schlagschatten zeichnet sich auf seiner Oberfläche ab. Die Frau blickt nicht nach unten, sondern zum Ufer und ihre Wahrnehmung konzentriert sich, wie wir bald hören werden, wahrscheinlich eher auf den Tastsinn ihrer Fußsohlen. Denn auf diesen kam es an.

Abzüge des Flussfotos fanden sich in verschiedenen Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, die von Kunsthistorikerin Petra Bopp (Fremde im Visier, Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009) gefunden wurden. Das idyllische Motiv, berichtet sie, sei derart aus der Serie der üblichen Landserfotos an der Ostfront herausgefallen, dass es ihr unheimlich geworden sei. Bis sie das Foto aus einem Einsteckalbum habe herausnehmen können - welch einfache, welch geniale Geste der Forscherin -, um die Rückseite zu inspizieren. Dort wurde das Geheimnis gelüftet. Mit Bleistift konnte man dort lesen: "Die Minenprobe. Vom Donez zum Don 1942".

Knipsende Landser

Die knipsenden Landser standen wahrscheinlich - das legt die Fotoserie des Infanteristen nahe - auf der Brücke und warteten. Suspense pur, nehme ich an. Die Frau hatte man als Minensuchgerät ausgewählt. Der Kommandeur des Armeegebiets hatte, wie die Forscherin entdeckte, angeordnet, "Juden oder gefangene Bandenangehörige" als lebende Detektoren vorangehen zu lassen. Außerdem weiß man inzwischen, dass an der Ostfront weibliche Gefangene nicht oft überlebten, Jüdinnen und Juden nie. Ist sie am Ufer angekommen, weiß sie, was ihr blüht? Eine Studentin fragte: Warum hebt sie dann noch die Röcke? Um sie, der Gewohnheit folgend, vor dem modrigen Wasser zu schützen?

Den französischen Zeichentheoretiker Roland Barthes hätte das Foto möglicherweise enttäuscht. Zeitlebens hatte er sich mit der Evidenz der Fotografie befasst. War sie eine mediale Konstruktion, von den physikalischen und chemischen Bedingungen eines Apparats programmiert? Gehorchte sie einer von der Malerei vorgegebenen Zentralperspektive? Ist es folglich vergeblich, nach einer Wirklichkeit hinter dem Foto zu suchen? Oder hält das Foto den Bruchteil einer Sekunde fest und sagt: So ist es wirklich gewesen? Der Moment des Knipsens, in dem der Gegenstand erfasst wurde, ist für immer vorbei, aber er war da.

Roland Barthes hasste einen großen Teil der preisgekrönten World-Press-Fotos, weil sie in der Regel ein Horrorprogramm bedienen. Er liebte stille Fotos, aus denen blitzartig ein unscheinbares Detail auffällt und den Betrachter anfällt. Er suchte auf ihren Oberflächen den "Sprung im Glas", ein stumpfes Element, das nicht in einer Erzählung aufgelöst werden konnte. Es schießt unversehens aus dem Foto auf dich, den Betrachter; ist unabhängig vom Hintergrundwissen, das sich aus gründlichen Recherchen ergeben hat (der Armeebefehl); unabhängig auch von einer gründlichen kunsthistorischen Analyse, welche die formalen Konstruktionen des Fotos (die Richtung des Schlagschattens der Frau im Fluss und die Richtung ihres Wegs ans Ufer bilden Diagonalen) sowie die Geschichte des idyllischen Bildschemas aufdeckt. Das findet Barthes uninteressant. Es elektrisiert ihn nicht.

Welches Detail des Flussfotos hätte ihn treffen können? Der Faltenwurf der gerafften Röcke? Der Moder des Flussufers? Die Schärfe des Schlagschattens auf liquidem Untergrund? Kein Lichtstrahl übermittelt die Todesbotschaft. Der Schrecken kommt aus dem rückwärtigen Schriftraum. Ist er einmal an die Fotooberfläche getreten, sind wir unfähig, das Foto unschuldig anzuschauen.

Und dennoch gilt Roland Barthes Satz (nur für die analoge Fotografie?): "Von einem realen Objekt, das einmal vom Objektiv einer Kamera eingefangen wurde, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin. Die Fotografie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns. Eine Art Nabelschnur verbindet den Körper des fotografierten Gegenstandes mit meinem Blick: Das Licht ist hier, obschon ungreifbar, doch ein körperliches Medium, eine Haut, die ich mit diesem oder jener teile, die einmal fotografiert worden sind." Da ist die Magie des Fotos.

Immer das gleiche Lied

Barthes' Satz hat eine zauberhafte Wirkung auf unsere Wahrnehmung der Frau in der Flusslandschaft. Im Visier der Soldateska und im Hintergrundwissen des Armeebefehls war sie als Individuum im Reich des Feindbilds und der statistischen Zahlen der Mordpraktiken der Wehrmacht ausgelöscht worden. Der Schrecken, in dem sie verschwand, bleibt, aber die Magie des Fotos ermöglicht es, die Situation zu animieren, sodass uns die vergangene Gegenwart dieser namenlosen, aber unverwechselbar individuellen Gestalt "wie das Licht eines Sterns" berührt, obwohl wir ihr keinen Namen geben können. Sie bleibt die flussdurchquerende "Russin". Schön und ergreifend, bemerkte eine Freundin, als sie den Entwurf des Covers sah und die Pointe hörte. Und wie witzig, dass die Überschrift des Schlusskapitels ein chinesisches Sprichwort zitiert: "Den Fluss durchqueren, indem man nach Steinen tastet." Es machte in Peking während des letzten Parteitags die Runde, als man aus den nichtssagenden Verlautbarungen der Funktionäre winzige Reformfortschritte aufspüren wollte. Siehst du denn nicht, warnte sie mich, was Leserinnen an diesem Cover empören muss? Es ist immer das gleiche Lied: Frauen werfen als Objekte einen Schatten. Die Täter bleiben schattenlos, unhaftbar verstauen sie die Indizienbeweise in Schuhkartons, bis eine Frau sie aufspürt. Ja, so ist das, sage ich. Das braucht nicht verschwiegen werden. (Helmut Lethen, Album, DER STANDARD, 1./2.3.2014)