"Den Eltern sollte klar sein, dass sie für den Zustand ihrer Kinder immer mitverantwortlich sind", sagt der Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer. Angehörige werden in die Therapie eingebunden.

Foto: Der Standard/Hendrich

STANDARD: Sie leiten eine kinderpsychiatrische Abteilung. Haben Sie das Gefühl, dass psychische Krankheiten und Störungen bei Kindern zunehmen?

Hochgatterer: Nein. Das ist gut untersucht. Der Anteil von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen ist in den letzten Jahrzehnten konstant geblieben: 20 Prozent der Kinder sind auffällig, zehn Prozent bräuchten eine Form der professionellen Behandlung aus dem psychosozialen Bereich.

STANDARD: Was sind aktuell die größten Probleme?

Hochgatterer: Es gibt Dauerbrenner: Angststörungen, Essstörungen vor allem bei Mädchen und Störungen des Sozialverhaltens - also expansive Kinder, die vor allem im schulischen Bereich auffallen. Und natürlich die Aufmerksamkeitsstörung ADHS. Es gibt auch Kinder, um die man sich oft recht spät Sorgen macht: depressive, suizidale.

STANDARD: Unterliegen psychische Erkrankungen von Kindern bestimmten Moden?

Hochgatterer: Ja, und dadurch entsteht der Eindruck, dass viele Kinder ein spezifisches Störbild haben. Da gehört auf die Bremse gestiegen. Im Falle von ADHS stellt sich etwa die Frage, ob wirklich alle Kinder, bei denen der Verdacht besteht, diese Krankheit haben.

STANDARD: Die Diagnose nimmt jedenfalls seit Jahren zu.

Hochgatterer: Da wäre ich vorsichtig. Was zunimmt, ist ein professioneller und differenzierter Zugang. Nur weil ein Kind nicht ruhig sitzen kann, hat es nicht ADHS. Ein kurzer Blick auf diese Kinder genügt nicht, es müssen spezifische Testinstrumente angewendet und verschiedene Personen befragt werden. Vor allem bedeutet die Therapie nicht die Verabreichung eines netten Medikaments, sondern muss an verschiedenen Ecken ansetzen.

STANDARD: Das bedeutet, dass die Eltern in die Therapie einbezogen werden müssen?

Hochgatterer: Professionelle Kinderpsychiatrie ohne Einbindung der Angehörigen funktioniert nicht. Den Begriff der "Schuld" versuchen wir zu vermeiden, der ist nur eine Belastung. Den Eltern sollte aber klar sein, dass sie für den Zustand ihrer Kinder immer mitverantwortlich sind. Das heißt nicht notwendigerweise, dass Väter oder Mütter Hauptverursacher sind. Aber sie sind verantwortlich dafür, etwas zu tun, damit es dem Kind besser geht.

STANDARD: Wie reagieren die Eltern auf diese Therapievorgabe?

Hochgatterer: Viele sind anfänglich skeptisch. Es gibt Eltern, die sich gegen die Zumutung sträuben, sich mit der eigenen Rolle zu befassen, aber es gibt kaum Eltern, die sich nachhaltig und dauerhaft wehren.

STANDARD: Viele Erwachsene stehen unter beruflichem wie sozialem Druck. Wie viel davon dürfen sie an ihre Kinder "durchreichen"?

Hochgatterer: Das Schöne an der Kinderpsychiatrie ist, dass die Dinge dazu tendieren, gut auszugehen. Man ist mit guten Prognosen konfrontiert. Kinder und Jugendliche halten bemerkenswert viel aus. Das heißt aber bitteschön nicht, dass sie alles aushalten.

STANDARD: Welchen Einfluss hat die soziale Herkunft bei psychiatrischen Problemen bei Kindern?

Hochgatterer: Sozial Schwache kommen zum Glück sehr wohl zu uns - sie sind sogar eine Kerngruppe. Armut und Arbeitslosigkeit wirken sich auf Kinder dramatisch aus. Man spricht nicht gerne darüber, weil das mit Vermögensverteilung zu tun hat, aber das sind zentrale Themen der Kinderpsychiatrie. In Familien, in denen es Langzeitarbeitslose und kein Geld gibt, kommen Verwahrlosung und Gewalt einfach häufig vor.

STANDARD: Wäre Armutsbekämpfung die beste Vorsorge bei psychischen Erkrankungen von Kindern?

Hochgatterer: Ja. Ich verstehe nicht, warum man so kurzsichtig ist und die Mittel nicht in diesen Bereich wirft, warum zum Beispiel die Psychotherapie für Kinder und Jugendliche nicht selbstverständlich voll kassenfinanziert ist. Eine Gesellschaft darf hier nicht untätig sein, das ist armselig. Studien zeigen, dass es für Zivilisationserkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Fettleibigkeit eine gemeinsame Basis gibt: Die Leute machen in ihrer Kindheit schlechte Erfahrungen. Da geht es rein um körperliche Erkrankungen, die sich volkswirtschaftlich dramatisch auswirken.

STANDARD: Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff zeichnet ein tristes Bild der Jugend von heute: Sie seien unreif, nur lustorientiert, und ihnen fehle es an Empathie.

Hochgatterer: Seine These vom kindlichen Tyrannen glaube ich so gar nicht. Ich erlebe die Jugendlichen als durch beschleunigte Veränderungsphänomene sehr beansprucht, aber auch als wach, interessiert, als sehr kommunikativ. Jugendliche reden viel mehr miteinander, als wir das gemacht haben - nicht nur via Computer und Handy. Sie sind viel flexibler als wir Erwachsenen.

STANDARD: Früher war also nicht alles besser.

Hochgatterer: Vergessen Sie das! Man idealisiert die eigene Kindheit, das selbst Erlebte, verdrängt Verletzungen, die man erduldet hat. Es ist gut, dass Kindern heute gewisse Dinge, die vor 40 oder 50 Jahren üblich waren, erspart bleiben - etwa die Selbstverständlichkeit der körperlichen Bestrafung. Und die oft gehörte Klage über das fehlende politische Bewusstsein der Jungen hat mit gesellschaftlicher Veränderung zu tun.

STANDARD: Inwiefern?

Hochgatterer: Die Erfahrung des existenziellen Mangels, die meine Generation mittelbar noch gemacht hat, hat sich auf uns Kinder ausgewirkt. Mein Sohn kennt das nicht - er macht die Erfahrung von Sicherheit, materieller Fülle und vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten. Die haben wir nicht gehabt. Das kann man aber nicht den Jungen heute zur Last legen. Dass sie aus dem fehlenden Mangel heraus ein anderes politisches Bewusstsein entwickeln, heißt nicht, dass sie keines haben.

STANDARD: Stimmt der Eindruck, dass im Westen weniger Kinder geboren werden - dass sie der Gesellschaft aber nicht mehr wert sind?

Hochgatterer: Der Blick auf Kinder ist falsch. Es zählt nur, wie die nächste Pisa-Studie aussieht. Interessant sind Kinder als menschliche Trivialmaschinen, wie es der Soziologe Niklas Luhmann nennt: kleine Roboter, die man mit bestimmtem Input füttert, um einen erwünschten Output zu erhalten. Kinder sollen vor allem leistungsfähig sein. Es ist etwa nicht mehr möglich, dass Jugendliche das tun, was sie gelegentlich tun sollten: im Leistungssinne nichts. Wie soll ein junger Mensch sich orientieren, wenn er sich nicht die Fragen stellen kann: Was will ich?

STANDARD: Worin sehen Sie die Ursachen für diese Entwicklung?

Hochgatterer: Liest man die soziologische Literatur, etwa die von Hartmut Rosa, liegt der Verdacht nahe, dass die Veränderung der Zeitstruktur eine Ursache ist. Die durchschnittliche Arbeitszeit im Westen nimmt zu, Ruhezeiten nehmen ab, niemand macht mehr Pausen - es ändert sich alles so rasch, dass man mit der Anpassung nicht nachkommt.

STANDARD: Wie wichtig ist unverplante Zeit für Kinder?

Hochgatterer: Sehr wichtig. Wir haben im stationären Bereich der Klinik limitierte Handyzeiten - zwei Stunden pro Tag. Das geht.

STANDARD: Empfehlen Sie das auch den Eltern?

Hochgatterer: Ja, es geht im Umgang mit Kindern und Jugendlichen immer um Identifikation, um Vorbilder. Ein Vater, der mit dem Smartphone schlafen geht, wird bei seiner Tochter nicht durchsetzen können, dass sie auf ihres verzichtet. (Lisa Mayr, Peter Mayr, DER STANDARD, 22.3.2014)