Wenn die Firma das Leben bestimmt: Der Umgang mit Nähe im organisationalen Alltag bewegt sich zwischen Vertrauensbildung und Manipulation.

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"Das unternehmerische Selbst nicht vernachlässigen!" Diese Mahnung des Wiener Bildungsforschers Erich Ribolits an die Adresse der Arbeitnehmer könnte als Motto über diesem punktgenau in die Zeit passenden Buch stehen. Technologischer Fortschritt Hand in Hand mit wettbewerbsbedingtem Zwang zur Rationalisierung und - nicht zu vergessen - beinharten Profitabilitätserwartungen vernichtet zwangsläufig laufend Arbeitsplätze. Was die Vätergeneration noch halbwegs kannte, die selbstverständliche Festanstellung einerseits und die langfristige Beschäftigung andererseits, ist mehr oder weniger Geschichte. Mitnichten aber das Bedürfnis, sich mit dem sozialen Gebilde, wo der - auch nicht mehr selbstverständlich - ausreichende Lebensunterhalt verdient wird, zu identifizieren.

Menschen wollen wissen, wo sie hingehören. Und sie wollen dazugehören. Und dieser Wunsch, wenn nicht gar Drang, übertönt vielfach die innere Stimme, die da wispert, dass dieses Empfinden von Verortetsein in einem Unternehmen ein sehr trügerisches ist. Wer ob dieser Konstellation realitätsblind vergisst, sich losgelöst vom unmittelbaren Anforderungskanon des derzeitigen Arbeitsplatzes generell fit für den Arbeitsmarkt zu halten, sprich sich als Unternehmer in eigener Sache zu begreifen und zu verhalten, und stattdessen den Sirenengesängen von der großen Betriebsfamilie Glauben schenkt, der muss damit rechnen, eher früher als später unsanft mit der Realität der Sorge um den Arbeitsplatzverlust konfrontiert zu werden.

Fähiges und williges Personal

Allerdings, es ist ein Gebot gleichermaßen der Fairness wie der Realitätswahrnehmung, nicht allein mit dem Finger auf "die bösen Unternehmen" zu zeigen und sie für die misslichen Umstände in Sachen Arbeitsplätze und Arbeitsplatzsicherheit verantwortlich zu machen. Letztlich sind auch sie mehr oder weniger Getriebene einer Entwicklung, deren Eigendynamik von ihnen kaum noch wirklich beeinflusst werden kann. Einerseits muss sich jedes Unternehmen um des Überlebens willen der Entwicklung fügen und in sie einfügen. Andererseits heizt eine blinde Vergötterung von Wachstum und Wettbewerb den Veränderungsprozess laufend an. Und zum unguten Dritten gibt es auch den noch lenkenden Zeitgeist, der nicht selten wider differenzierteres, tieferes Wissen und jede Vernunft Richtungen vorgibt. Parameter, die ein genuin eigenständiges Unternehmenshandeln schwer bis nahezu unmöglich machen.

Also muss mitgemacht werden. Und dazu reicht fähiges Personal allein nicht mehr aus. Immer wichtiger wird williges Personal. Personal, das sich für das Unternehmen mit Haut und Haaren ins Zeug legt, das rackert und ackert und das - bei den modernen Möglichkeiten der Erreichbarkeit - möglichst rund um die Uhr. Die Leistung, auf die Unternehmen heute angewiesen sind, verlangt, so das aktuelle Credo, eine Einsatzbereitschaft, die mit dem gemeinhin als Arbeitsschluss verstandenen "Feierabend" kaum noch etwas gemein hat. Und um diese Einsatzbereitschaft hervorzurufen und zu gewährleisten, verwandeln sich Unternehmen immer mehr in einen Ersatz für das, was im zutiefst privaten Sinn als "Zuhause" bezeichnet wird.

Problematische Identifikation

Und so konstatieren die Herausgeber des stark zum Nachdenken anregenden Readers in ihrer klugen Einleitung: Viele Firmen legen es heute geradezu darauf an, dass Mitarbeiter Arbeitszeit und Freizeit verwechseln. In der Kaffeepause ein Schwätzchen mit der Chefin, nach "Feierabend" ein Bier auf der firmeneigenen Terrasse, bei möglichst jobbezogenem Gedankenaustausch, und dazwischen ein Abstecher ins Fitnesscenter des Unternehmens. Was für manche Leute der Inbegriff eines erfüllten Berufslebens sein mag, identifizieren sie als Ausdruck einer problematischen Entwicklung. Die Grenze zwischen Privatleben und Arbeit ist stark verwischt worden.

Als Paradebeispiel für diese Entwicklung führen sie Firmen wie Google, Apple, Microsoft oder Novartis an. Auf den Geländen dieser Konzerne ist alles vorhanden: Fitness, Wellness, Essensgelegenheiten, Disco. Man muss den Firmencampus eigentlich gar nicht mehr verlassen. Mit der Unterzeichnung des Vertrags geht man nicht mehr nur ein Arbeitsverhältnis ein, sondern wird gleich als ganze Person mitsamt Privatleben ins Unternehmen geholt. Mehr denn je wird Wert auf persönliche Hingabe im Beruf gelegt. Es wird erwartet, dass Frau oder Mann sich leidenschaftlich für ihren Job engagieren. Und sich darüber selbst vergessen. Beziehungsweise diese Selbstvergessenheit als Erfüllung betrachten.

Viele Arbeitnehmer fühlen sich so genötigt, auch in der Freizeit zu arbeiten. Der Druck ist groß, auch am "Feierabend" und dem ehemals heiligen Sonntag für die Firma sozusagen Gewehr bei Fuß zu stehen. Noch einmal aus der Einleitung: Die Einführung von BlackBerry-Mobiltelefonen hat zu ganz neuen Praktiken und organisationalen Realitäten geführt. Die Normen des kommunikativen Austauschs sind quasi "rekonfiguriert" worden - die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beantworten selbst um drei Uhr morgens eine SMS. Erwartungen der Verfügbarkeit und der Verantwortlichkeit haben sich geändert; Interaktionen im kommunikativen organisationalen Netzwerk wurden intensiviert. Zwar gewannen die Mitglieder der Firma eine höhere Flexibilität in Bezug darauf, wo sie arbeiten wollen. Doch zunehmend sind sie am Gängelband, was die Pflicht betrifft, so rasch wie möglich auf Kontaktaufnahmen seitens des Unternehmens zu reagieren.

Bis zur Selbstaufgabe

Den Gepflogenheiten folgend beuten sich die Leute selber aus, konstatieren die Herausgeber. Und geben zu bedenken: Diese Entwicklung birgt nicht zu unterschätzende Gefahren. Die eigene Familie und der Freundeskreis werden vernachlässigt, man identifiziert sich bis zur Selbstaufgabe mit dem Job. Wenn es dann jedoch Probleme im Beruf gibt oder das Unternehmen in Schieflage gerät, zieht es vielen Leuten den Boden unter den Füßen weg. Man ist eben doch austauschbar. Ganz abgesehen von den bekannten Folgen der ständigen Verfügbarkeit: Erschöpfungszustände, Burnouts, Depressionen. Kein Wunder, dass sich der Wunsch nach Beständigkeit und Entschleunigung im Berufsleben zunehmend lauter artikuliert.

Wenn auch die beiden Begriffe Organisation und Intimität zunächst nicht miteinander verwandt anmuten, mehr denn je sind sie ein Paar. Ein fragwürdiges. Und noch fragwürdiger ist ihre systematische Verwechslung. Für das Buch stellt sich mithin die Frage, wie ein richtiger Schutz der Privatsphäre - unter Respektierung der heutigen organisationalen Notwendigkeiten - aussehen kann. Wie lässt sich das Bedürfnis nach Verbundenheit und Vertrautheit mit den Bedürfnis nach permanenter unmittelbarer Reaktionsfähigkeit bei weitestgehender organisationaler Flexibilität verbinden?

Das waren noch Zeiten, als Unternehmen einfach nur gut organisiert waren. Als man sich noch keine Gedanken über globale Märkte und Kundeninteressen machen musste. Als Henry Ford noch seinen berühmten Satz "Jeder Kunde kann sein Auto in einer beliebigen Farbe lackiert bekommen, solange die Farbe, die er will, schwarz ist!" aussprechen konnte. Unternehmen müssen heute über vollkommen andere Wege Mehrwert schaffen als über die industriezeitalterlichen Formen von Spezialisierung, Standardisierung, Synchronisierung und Zentralisierung. Das Internetzeitalter verlangt Hyperflexibilität. Nur: Welches Organigramm kann eine solche Flexibilität abbilden, welche Struktur kann die aktuelle Komplexität noch verarbeiten?

Personenorientierung

Durch die aktuelle Entwicklung wird die Organisation immer abhängiger von Elementen, die sie nicht selbst herstellen kann: Entscheidungsfähigkeit, Kreativität und Innovation. Dies können nur Menschen - aber Menschen kommen als Personen innerhalb der Organisation eigentlich nicht vor, weil sie lediglich als "Personal" und "Stellen" geführt werden. Das führt direkt ins Dilemma: Je höher entwickelt die organisationale Spezialisierung ist, desto abhängiger wird die Organisation von den Spezialisten mit ihrer entsprechenden Expertise, desto weniger ist sie in der Lage, ihre Leistungsfähigkeit ausschließlich durch sich selbst, das heißt durch ihre Strukturen zu erhalten.

Das funktionsorientierte organisationale System braucht das personenorientierte soziale System aufgrund der nur dort verfügbaren Ressourcen. Aber damit nicht genug: Es reicht nicht mehr aus, "nur" kreativ und innovativ zu sein - die Organisation muss auf den ganzen Menschen zugreifen können, will ihn mit Haut und Haar. Er soll sich entgrenzen, leidenschaftlich sein, immer verfügbar sein - und vor allem soll er all dies freiwillig im Sinne des Unternehmens tun. Dieses Spannungsverhältnis beleuchtet das lesenswerte Buch aus unterschiedlichsten Perspektiven. (Hartmut Volk, LEADERSHIPSTANDARD, 29.3.2014)