"2008 dachten in der Finanzwelt alle positiv. Es wird schon gutgehen  - und wir kennen das Resultat": Darum warnt der Philosoph Wilhelm Schmid vor dem allgegenwärtigen Positivdenken".

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STANDARD: Sie sagen: "Lebenskunst heißt, auch mit dem Misslingen leben zu können." Fangen wir damit an, was das überhaupt heißt, aus dem Leben eine Kunst zu machen?

Schmid: Das heißt, ganz einfach bewusster zu leben. Man kann auch unbewusst dahinleben. Es spricht nichts dagegen, aber wenn es Schwierigkeiten gibt, kommen die meisten Menschen ins Nachdenken. Was waren die Gründe dafür, und gibt es Möglichkeiten, da wieder rauszukommen? Dann ist das Leben nicht mehr so leicht, und damit beginnt die Lebenskunst. Kunst ist immer schwer.

STANDARD: Welchen Stellenwert hat das Scheitern in Ihrem philosophischen Konzept von "Lebenskunst"?

Schmid: Jeder und jede weiß aus dem praktisch gelebten Leben: Es gelingt nicht immer alles. Wir brauchen also unbedingt eine Umgangsweise mit dem, was nicht gelingt. Wenn uns etwas gelingt, dann ist das ja nicht so schwer zu leben. Da freuen wir uns, und weiter geht's. Wenn aber etwas misslingt, ist das sehr viel schwerer zu leben. Da brauchen wir Kunst.

STANDARD: Ist diese Kunst, mit dem Scheitern umzugehen, im Lauf der Zeit schwieriger geworden, weil durch Internet und Social Media die Blamage unter dem Brennglas der allgegenwärtigen Beobachter vergrößert wird? Oder war Scheitern immer gleich schwierig?

Schmid: Nein, das war in früherer Zeit sehr viel einfacher, weil die Menschen in einer Umgebung gelebt haben, in der das Gelingen nicht vergöttert worden ist wie heute. Das ist ein Resultat des Positivdenkens. Wenn Menschen immer nur positiv denken wollen, werden sie von einer negativen Erfahrung natürlich brutal eingeholt. Man kann das schon bei kleinen Kindern beobachten. Wenn ein Kind nie mehr hinfallen soll, weil die Eltern es pausenlos behüten, dann wird der kleinste Kratzer zu einer Katastrophe. Dagegen wird ein Kind, das, wie es normal ist, beim Laufenlernen öfter hinfällt, es für normal halten, sich wieder aufraffen und weitergehen.

STANDARD: Das "Think positive"-Dogma ist also verhängnisvoll?

Schmid: Wir haben mittlerweile ja viel Erfahrung mit dem Positivdenken. Zum Beispiel 2008 dachten in der Finanzwelt alle positiv. Es wird schon gutgehen – und wir kennen das Resultat. Daraus resultiert: Das Positivdenken ist dumm, denn es sieht die Probleme nicht, es bereitet sich nicht darauf vor, Schwierigkeiten zu bewältigen, und dann kommt der furchtbare Absturz. Viel klüger ist es, negativ zu denken. Wenn ich in Deutschland einen Zug der Deutschen Bahn besteige, dann denke ich negativ: Dieser Zug wird nicht pünktlich sein, und darauf bereite ich mich vor. Ich mache für die Ankunft keine knappen Termine, sondern gebe mir Spielraum. Wenn eintrifft, was ich angenommen habe, gibt es kein Problem, weil ich bin darauf vorbereitet. Und wenn der Zug pünktlich kommt, dann kann ich noch einen Kaffee trinken.

STANDARD: Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat das Scheitern in seinem Buch "Der flexible Mensch" (1998) als "das große Tabu der Moderne" bezeichnet. Gilt diese Diagnose noch?

Schmid: Scheitern ist ein Tabu. Da hat sich in den paar Jahren seither nichts geändert, im Gegenteil. Die Menschen sind in einer Weise hysterisch hinter dem Gelingen her, dass ich ahne, was der Grund dafür ist, nämlich die furchtbare Angst vor dem Misslingen.

STANDARD: Welchen pädagogischen Wert hat das Scheitern? Können wir nur vom eigenen Scheitern lernen oder auch vom "angeschauten" Scheitern der anderen?

Schmid: Wie lernt das Kind am besten, dass es nicht auf die heiße Herdplatte fassen soll? Natürlich können die Eltern sagen: Tu das nicht. Aber so wird es für die Kinder interessant. Also fasst es auf die heiße Herdplatte – nur ein einziges Mal im Leben. Die Erfahrung gilt für immer. Wir lernen leider nicht sehr viel aus dem Gelingen. Wir lernen viel mehr aus dem Misslingen. Dafür ist das Scheitern gut und unersetzlich. Es beschert uns wertvolle Erfahrungen.

STANDARD: Sie haben von 1998 bis 2007 als "philosophischer Seelsorger" in einem Spital bei Zürich gearbeitet. Was waren die häufigsten Dinge, die Menschen in Krankheit oder vielleicht sogar an der Schwelle zum Tod noch als echtes "Scheitern" wahrgenommen haben, und was hat sich in so einer existenziellen Situation vielleicht relativiert?

Schmid: Viele Menschen nehmen die Krankheit als Scheitern wahr. Sie haben alles versucht, was diese Gesellschaft vorschreibt: gesund gelebt, Haus gekauft, schönes Auto, gute Beziehung, und dann eine Krankheit. Das können sie sich nicht erklären, denn das darf ja eigentlich nicht mehr vorkommen in dieser modernen Welt, in der alles immer nur positiv ist. Sie haben selbst dann noch positiv gedacht, als sich die Krankheit abgezeichnet hat: Das ist nicht wahr, das werde ich auf jeden Fall überwinden. Aber: Das Leben spielt anders, nach wie vor. Menschen haben ihr Leben nicht zu hundert Prozent im Griff. Zum menschlichen Leben gehört nicht nur Gesundheit, sondern auch Krankheit, Freude und Ärger, Lust und Schmerz. Das ist die Polarität des Lebens, die wir nicht ausschalten können. Wir können versuchen, darauf Einfluss zu nehmen, aber wir sollten nicht die Illusion haben, dass nur wir allein das Leben im Griff haben. Das Leben hat auch uns im Griff – unter anderem mit dem Griff der blanken Zufälligkeit. Es kann mich etwas einholen, mit dem ich nicht gerechnet habe, nun aber fertigwerden muss. Das war für viele Menschen entlastend, damit sie sich nicht mehr ihre Krankheit als eigenes Versagen anrechnen mussten.

STANDARD: Es gibt ja diesen Begriff "gescheiterte Existenz". Wann ist eine Existenz gescheitert? Kann ein Leben als Ganzes denn scheitern?

Schmid: Die Grundlage, eine gescheiterte Existenz als solche zu bezeichnen, kann nur darin liegen, was der gegenwärtige Maßstab für eine gelungene Existenz ist. Der ist natürlich zeitabhängig. Nehmen wir als Beispiel Otto Lilienthal (1848-1896). Der ist in der Nähe von Berlin immer wieder auf einen Hügel gestiegen, hat sich Flügel unter die Arme geschnallt und ist damit den Berg runtergerannt. Er kam dabei letzten Endes zu Tode. War das eine gescheiterte Existenz? Nach Maßstäben der damaligen Zeit war das eine gescheiterte Existenz. Die Leute haben ihm den Vogel gezeigt, denn jeder wusste ja, Fliegen geht überhaupt nicht. Und heute? Über hundert Jahre später würden wir sagen: Dieser Mann hat sich vom hundertfachen Misslingen nicht entmutigen lassen, er hat das Scheitern seiner Existenz in Kauf genommen für diesen Traum, der tatsächlich wenige Jahrzehnte später wahr geworden ist. Ohne Lilienthal würden wir nicht in Urlaub fliegen können. Gescheiterte Existenz ist ein sehr relativer Begriff, denn aus jedem Scheitern, auch einer ganzen Existenz eines Menschen, können alle anderen sehr viel lernen.

STANDARD: Was ist denn über das Verhältnis Politik und Scheitern zu sagen? Christoph Schlingensiefs Partei "Chance 2000" postulierte das Motto "Scheitern als Chance".

Schmid: Scheitern ist wirklich eine Chance, denn wenn wir sehen, auf diese Weise geht es nicht, können wir es auf eine andere Weise versuchen. In der Politik gibt es ja eher selten ein Gelingen, sondern häufig ein Scheitern. Es sind so viele Aspekte im Spiel, so viele Interessen, dass man niemals alle zugleich befriedigen kann. Wir haben uns als moderne Gesellschaften entschieden, dieses Scheitern zum Programm zu machen. Das ist Demokratie. Auf diese Weise immer wieder Wege zu finden, die sehr schwierig sind, weil mit Scheitern gepflastert, um dann doch eine Lösung zu finden, mit der viele einverstanden sein können. Während in Diktaturen oder einer Monarchie einer oder wenige entscheiden, die nicht an das Scheitern denken müssen, weil sie niemandem Rechenschaft schuldig sind – und ganz fürchterlich in die Irre gehen können, wie der deutsche Kaiser Wilhelm II., dem es sehr wichtig war, Alleinherrscher zu sein, und natür- lich noch scheußlicher schiefgegangen Hitlers Diktatur.

STANDARD: Sie deuteten in einem "Zeit"-Interview mit Moritz von Uslar an, dass Ihr privates Scheitern überhaupt der Anlass war, Philosophie zu studieren. Macht Philosophie glücklich, oder kann man auch an oder mit ihr kolossal scheitern?

Schmid: Das Scheitern macht glücklich. Ich spreche aus Erfahrung. Dieses Projekt, eine Philosophie der Lebenskunst neu zu begründen, verdanke ich der schlimmsten Zeit meines Lebens. Ich war ein Jahr in Paris, mutterseelenallein, verloren, womit ich nicht gerechnet hatte. Das zog sich über Monate und brachte mich wirklich an den Rand meiner Existenz. Genau an dem Punkt, wo ich nicht mehr weiterwusste, kam mir in den Sinn, was ich eigentlich brauche, nämlich Lebenskunst, ein Lebenkönnen. Da bin ich auf viele Dinge aufmerksam geworden, vor allem darauf, dass das, was ich jetzt tue, nachzudenken über mein Leben, um es im Denken neu zu orientieren, die Grundlage für Lebenskunst ist. Insofern kann gerade in der Philosophie das Scheitern sehr glücklich machen.
(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 3.5.2014)