Manchmal braucht es einen Anstoß, um so mutig sein, wie man es gern wäre, um zeigen zu können, dass man auch nach einem Sprung ins kalte Wasser schwimmen kann.

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Barbara Frischmuth, geb. 1941 in Altaussee, ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie studierte Englisch und Türkisch, später Orientalistik. Zuletzt erschien ihr Roman "Woher wir kommen" (Aufbau-Verlag, 2012).

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Wenn man das Wort Mut im Namen trägt, bleibt einem die Auseinandersetzung mit dem Begriff nicht erspart. "Man kann von niemandem erwarten, dass er ein Held ist, sagte meine Mutter gelegentlich, "aber dass er sich anständig benimmt, das schon." Was sie unter anständigem Benehmen verstand, war, was ich als kleinen Mut bezeichnen würde, nämlich immer zu sagen, was man denkt, und wenn das zu gefährlich war, gar nichts zu sagen. Damit war sie auf der Linie meines Vaters, nur dass der seltener gar nichts sagte. Daher wurde er in der NS-Zeit als "politisch unzuverlässig" eingestuft und an die Ostfront geschickt, wo er 1943 erschossen wurde.

Für den großen Mut steht ein jüngerer Bruder meines Vaters, Herbert Frischmuth, der sich, noch keine zwanzig, während des Juliputschs 1934 nachts heimlich aus dem elterlichen Hotel in Altaussee schlich, um im 30 Kilometer entfernten Klachau gegen illegale Nazis, die geputscht hatten, zu kämpfen. Er wurde dabei getötet, und als niemand von denen, die ein Auto besaßen, sich getraute, meine Großmutter und meinen Vater nach Klachau zu fahren, erklärte sich der Freund meines Vaters, ein Engländer namens Frank Tong, der gerade in Altaussee auf Sommerfrische war, bereit, die beiden in seinem roten Sportcabriolet hinzufahren. Eine Hilfeleistung, die ebenfalls Mut erforderte, denn es wurde noch geschossen. Herbert war an einem Kinnschuss verblutet, und da sein Gesicht entstellt war, konnte er auf den ersten Blick nur anhand des Gürtels, den er sich von meinem Vater geliehen hatte, identifiziert werden.

Da ich erst sieben Jahre nach meines Onkels Tod auf die Welt kam, kannte ich Herbert nicht. Über Herbert ist weder in der Familie noch in der Region viel gesprochen worden, ebenso wenig wie über die Widerstandskämpfer, die es im Salzkammergut gegeben hat. Entweder weil man sie für Kommunisten hielt, was sie zum Teil auch waren, oder weil einer von ihnen sich nach Kriegsende zu viel Macht anmaßte und dabei das Augenmaß verlor. Oder, was wahrscheinlicher ist, weil sie sich nicht der üblichen Ausreden bedienten und ihr Leben für etwas riskiert hatten, das ihnen wichtig genug erschien wie Freiheit, Unabhängigkeit, Menschlichkeit. Auch störten sie das Gleichgewicht der Schuldzuweisung, hatten einen größeren Weitblick und waren überzeugt, dass das mit dem 1000-jährigen Reich nichts werden würde. Von manchen hieß es, dass sie von Haus aus Draufgänger gewesen wären. Das mussten sie auch, um aus der deutschen Armee zu desertieren, sich von den Engländern zu Fallschirmspringern ausbilden zu lassen, dann im Winter 1945 über unwegsamem Gebiet abzuspringen, um die sogenannte Alpenfestung, die die Alliierten bei weitem überschätzt hatten, zu unterminieren.

Sein Leben aufs Spiel setzen

Herbert hatte seine fünf Brüder, unter ihnen ein illegaler Nazi und ein als "politisch unzuverlässig" Eingestufter, beschämt, und man hielt, was er tat, für jugendliche Unvernunft. Er wollte weder Baumeister, Arzt, Jurist oder Hotelier werden wie seine Brüder und galt eher als ungeschickt. Beinahe 80 Jahre nach seinem Tod bewundere ich seine stille Couragiertheit, auch wenn er damit nichts von dem, wofür er sein Leben aufs Spiel setzte, erreichen konnte.

Mut, der etwas bewirken will, braucht Öffentlichkeit, um das, was er bewirken soll, vor Augen zu führen. Ob es sich dabei um den Kampf für Meinungsfreiheit oder gegen Rassismus, für soziale Gerechtigkeit oder gegen schlechtere Bedingungen für Frauen, für gegenseitige Toleranz in Sachen Religion handelt, der Mut zum Engagement bedarf auch der Inszenierung, um wahrgenommen zu werden. Je drastischer die Performance, desto größer die Chance, etwas damit zu erreichen. Zu viel Showbiz kann aber auch ins Abseits führen, wenn vor lauter Schwarz-Weiß alle Grautöne ausgeblendet werden.

Couragiertheit ist selten angeboren, sondern muss erlernt werden. Wie in dem Fall des kleinen Mädchens, das einen Erwachsenen bat, es vom Fünf-Meter-Sprungbrett zu stoßen. Es konnte bereits schwimmen und wollte zeigen, dass es auch nach einem Sprung im kalten Wasser zurechtkommen würde. Es brauchte aber einen Anstoß, um so mutig zu sein, wie es gerne sein wollte. Der Mann, der das Mädchen schubste (der Stiefvater), wurde von anderen angezeigt und hatte alle Hände voll damit zu tun, der Gendarmerie den Sachverhalt zu erklären.

Die liebste von den Geschichten, die uns zeigen, auf wie viele Weisen man mutig sein kann, ist mir die von Sándor Weöres, einem großen, ungarischen Dichter. Ich kannte ihn und durfte einige seiner Gedichte übersetzen. Er war ein in sich gekehrter Sprachkünstler, der gelegentlich zum Faun wurde. Weöres erzählte mir, dass Anfang der 1950er-Jahre ein Staatsbeamter stundenlang mit ihm auf der Budapester Margareten-Insel auf und ab gegangen war, um ihn dazu zu überreden, eine Ode an Stalin zu schreiben. "Und", fragte ich, "was haben Sie gemacht?" "Nichts", antwortete er. "Ich fühle mich als Renaissancedichter und hätte auch eine Ode an Stalin schreiben können, aber es hat mich nicht gefreut." Er kam damit durch. Für mich ist das die lässigste Antwort, die je ein Dichter in Richtung Diktatur gegeben hat: "Es hat mich nicht gefreut!" Und gleichzeitig eine sehr subtile Art von Mut, denn es hätte auch anders ausgehen können.

Mit dem Mut verhält es sich ähnlich wie mit der Kunst. Fünf Minuten Weltruhm sind herzerfrischend, aber um zehn Minuten daraus zu machen, bedarf es einer persönlichen Haltung. Auch Mut muss von der eigenen Person getragen und abgedeckt werden.

Heute ist uns in Mitteleuropa vieles an Engagement möglich, ohne dass es den Kopf kostet. Eine gute Zeit, den Stein tropfenweise zu höhlen. Ein kleines Land wie Österreich, das aus einer viel größeren und multiethnischen Vergangenheit kommt, will sich noch immer nicht als Einwanderungsland begreifen - das sind die Staaten Europas mittlerweile alle - und tut sich schwer, einen unbefangenen Blick auf die Zuwanderung zu richten. Sieht nicht die Bereicherung dort, wo sie sein könnte, sondern nur den Schaden, dort, wo er ist. Es braucht daher nicht nur Zivilcourage zum Engagement, sondern auch List und Witz, um die verknöcherten Fronten zum Schwingen zu bringen. Und eine Hartnäckigkeit bei der Annäherung an die sogenannten Fremden, die auch darin bestehen kann, ihre Sprache zu lernen.

Ich war neunzehn, als ich dabei war, mir Istanbul allein und zu Fuß zu ergehen. Anfang der 1960er-Jahre war Istanbul eine Stadt, die nicht mehr Einwohner als Wien zählte, 1,2 Millionen, und gerade einen Militärputsch hinter sich hatte. Nicht unbedingt ein sicheres Umfeld für eine junge Europäerin. Überall gab es Baustellen, um die byzantinischen Ruinen tourismustauglich zu machen. Ich wollte alles sehen und geriet immer wieder in prekäre Situationen. Doch wann immer mir die Bauarbeiter zu nahe rückten, fing ich an, sie auf Türkisch zu beschimpfen, so wie sie von ihren Frauen beschimpft worden wären.

Meist endete es in Gelächter und Gastfreundschaft. Gerade weil ich eine Sprache zu sprechen versuchte, die man aus meinem Mund nicht erwartete. Ich hatte damit den patriotischen Gefühlen dieser Männer geschmeichelt, ich weiß. Aber die Methode hatte etwas für sich. Sie funktionierte oft besser, als nach der Polizei zu rufen. In abgewandelter Form versuche ich es noch heute damit. Tropfen für Tropfen für Tropfen. (Barbara Frischmuth, Album, DER STANDARD, 24./25.5.2014)