"Problemlösungskompetenz" steht hoch im Kurs, nicht nur in der Bildungsszene. Aber "im Leben draußen" gibt es keine vorformulierten, "didaktisierten" Probleme, warnt Detlef Zöllner.

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STANDARD: Wie viel "Erzieher" müssen Lehrer auch sein? Es gibt ja die Klage, dass immer mehr Erziehungsaufgaben delegiert werden.

Zöllner: Es kommt auf die Schulform an. Mein Professor, bei dem ich habilitiert habe, hat immer gesagt, wenn es um die Qualifikation eines Lehrers ging, 70 Prozent der Lehrertätigkeit sind Schauspielerei, der Rest ist Fachwissen. Im Grunde genommen ist das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern eben nicht so sehr geprägt durch das zu vermittelnde Fachwissen, sondern größtenteils durch Gruppendynamiken und soziale Prozesse im Unterricht. Und der Lehrer, der dort überleben will, muss eine Persönlichkeit haben, ein Standing, Menschenkenntnis und Erfahrung. Jedenfalls sind die Anforderungen an Lehrer im erzieherischen Bereich deutlich höher als im fachwissenschaftlichen. Lehrer müssen in jeder Schulform zu einem erheblichen Teil auch Erzieher und Psychologen sein.

STANDARD: Welche Dimension von Lehrersein ist mit den "70 Prozent Schauspielerei" angesprochen?

Zöllner: Vor allem Vorbild sein. Das Vorbild kann positiv oder negativ sein. Vorbild sein heißt, Schüler können und müssen sich vom Lehrervorbild abgrenzen, es je nachdem, wie der Umgang miteinander läuft, auch ablehnen, oder sie identifizieren sich mit ihm. Beides ist wichtig, weil diese Auseinandersetzung mit der Lehrerpersönlichkeit auch für die persönliche Entwicklung und Bildung unverzichtbar ist. Das ist eine große Herausforderung für den Lehrer als Mensch, nicht so sehr als Fachkraft. Es nimmt auch unglaublich in Anspruch, und darum ist es auch kein Wunder, dass Burnout gerade im Lehrerberuf so verbreitet ist. Die persönliche Beanspruchung des Lehrers ist einfach enorm. Es geht gar nicht anders. Die Schüler brauchen diese Reibungsfläche.

STANDARD: Welche Bedingungen brauchen Lehrer, um in diesem immer komplexeren Schulzusammenhang "überleben" zu können?

Zöllner: Das Wichtigste wäre Supervision und zusätzliches Personal - Sozialpädagogen und Psychologen -, das auch beratend und unterstützend an den Schulen tätig ist. Es befreit ungemein, wenn es die Möglichkeit gibt, dass Lehrer ihre täglichen Erfahrungen mit Kollegen, aber auch entsprechend geschultem Personal teilen können und gespiegelt bekommen, wie sich ihre Situation von einer Beobachterperspektive aus darstellt. Es würde auf jeden Fall die Belastung, die Lehrer aushalten müssen, erheblich mindern.

STANDARD: Sie haben im Rahmen der von Konrad Paul Liessmann, Katharina Lacina und Bernhard Hemetsberger in Kooperation mit dem STANDARD organisierten Vortragsreihe "Schöner scheitern – zur Pädagogik des Misslingens" am Fachdidaktikzentrum Psychologie – Philosophie der Uni Wien referiert. Welchen Bezug haben Sie als Erzieher zum Scheitern?

Zöllner: Das Scheitern ist eine tägliche Erfahrung in der Pädagogik. Man macht sich ein falsches Bild von Pädagogik als Wissenschaft und Praxis, wenn man sich das wie eine Technologie vorstellt, wo man mit einer entsprechenden Ausbildung einen Werkzeugkasten zur Verfügung gestellt bekommt, mit dem man die Situationen, mit denen man es zu tun bekommt, bewältigen kann und Dinge zum Funktionieren bringt. Meine Erfahrung mit der Pädagogik ist die, dass alle Vorstellungen von gutem Leben, von gelingendem Umgang, von gelingender gemeinsamer Arbeit, die man vielleicht vom Studium her hat, bevor man es mit der Praxis zu tun bekommt, scheitern müssen.

STANDARD: Warum das?

Zöllner: Die Pädagogik ist zuerst ein Verhältnis zwischen Erwachsenen und sich entwickelnden Menschen, die in verschiedenen Lebensaltern ganz unterschiedliche Bedürfnisse und Potenziale haben. Die bescheidene und zugleich anspruchsvolle Aufgabe der Pädagogik ist es, den sich entwickelnden Menschen in seiner Entwicklung zu unterstützen, in welche Richtung auch immer. Man kann das nicht lenken. Wenn ich mir Lehrpläne ansehe, vor allem Begriffe wie Bildungsstandards oder Kompetenzrastermodelle, die seit der Pisa-Studie in der Bildungsszene so verbreitet sind und den klassischen Bildungsprozess verdrängt haben - die gehen alle von der Vorstellung aus, man könnte Menschen sortieren, standardmäßig in eine bestimmte Richtung schubsen, drängen, lenken oder locken. Das muss scheitern.

STANDARD: Scheitern in diesem Kontext heißt dann also was?

Zöllner: Wenn ich von "Scheitern" spreche, dann meine ich: Wir scheitern immer dann, wenn wir uns eine bestimmte Vorstellung machen, wie der Mensch auszusehen hat, den wir da vor uns haben. Wir müssen es einfach zulassen. Wir haben aber auch die Seite des Scheiterns vom Schüler aus. Da haben wir inzwischen ein bestimmtes Konzept von Lernen, das das Scheitern tabuisiert. Lernen soll immer Spaß machen, Erfolg vermitteln, Gelingenserfahrungen ermöglichen. Damit auch wirklich jeder Schüler seine persönlichen Erfolgserfahrungen machen kann, wird dann eben das Niveau diesem Schüler angepasst. Das ist dann individuelles Lernen. Da wird – egal, wie erfüllend und produktiv das Lernen für den Schüler ist – so weit heruminterpretiert an den Lernergebnissen und Erfahrungen, dass es am Ende als Erfolg wahrgenommen werden kann. Was dabei verlorengeht, ist die Erfahrung, dass Lernen auch mit Anstrengung und Mühsal verbunden ist und dass diese Mühsal ihre eigene Befriedigung mit sich bringen kann, dass man am Ende an diesem Scheitern oder die oft erfahrene Vergeblichkeit wachsen kann, weil man kämpfen und mit dem Gegenstand ringen musste.

STANDARD: Ihr Vortragsthema lautete "Problemlösungen, Problemfindungen: am Gegenstand scheitern können". Ist "am Gegenstand" zu scheitern einfacher, als irgendwie am Leben zu scheitern?

Zöllner: Ich mache den Unterschied zwischen Problemlösung und Problemfindung in der Hinsicht: Es gibt ja das schöne Wort Problemlösungskompetenz, das immer wieder an zentraler Stelle erwähnt wird. Was wir an Schulen damit fördern, ist, vorgegebene Probleme, die schon vorformuliert und aufbereitet, "didaktisiert" sind in Form von Lern- und Unterrichtsmaterialien, zu lösen. Quasi standardisierte Probleme. Im Leben draußen besteht der Weg zur Problemlösung aber nicht darin, dass man ein Problem vorgelegt bekommt, sondern man muss sich durch viele Schwierigkeiten durcharbeiten. Zuerst muss man mit den Phänomenen konfrontiert werden, das Interesse muss geweckt werden, erst dann kann gelernt werden. Die erste Aufgabe des Lehrers ist also, Interesse zu wecken. Wenn das Interesse geweckt ist, wird der lernende Mensch auch keinen Schwierigkeiten mehr aus dem Weg gehen. Er will es dann wissen, dann macht Lernen auch Spaß.
(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 16.6.2014)