STANDARD: Barack Obama hat mit Pete Souza einen hochaktiven Haus- und Hoffotografen, Angela Merkel lässt ihren Besuch in der Kabine der deutschen Fußballnationalmannschaft via Social Media bekanntmachen, Putin posiert auch sehr gern vor Kameras. Täuscht der Eindruck, oder setzen Politiker immer öfter auf die „Macht der Bilder“ und visuelle Kommunikation?

Bernhardt: Ja, sie setzen sehr gezielt darauf, allerdings passiert es ihnen doch, dass sie einem Trugschluss aufsitzen, weil die Rede von der „Macht der Bilder“ suggeriert, dass Bilder quasi aus sich heraus agieren, also dass sie Bedeutungsträger sind, die sich quasi unmittelbar erschließen, was in dieser Form allerdings unrichtig ist. Bilder sind ja nicht universell verständlich, sie bedeuten je nach kulturellen, politischen, sozialen Kontexten etwas anderes, sind interpretationsoffen. Das Setzen auf eine Bildermacht kann durchaus danebengehen.

STANDARD: Welche Bildpolitiken beobachten Sie denn in Österreich?

Bernhardt: Es sind nicht so sehr strategische Hintergründe erkennbar wie zum Beispiel im US-amerikanischen Kontext, aber was mir auffällt, ist, dass Versatzstücke dessen, was in einer sehr professionellen Kommunikation mit Bildern gemacht wird, in Österreich auch versucht werden, etwa aus der Populärkultur Kommunikationsformen zu importieren und damit positive Attribute und Konnotationen. Selfies sind eine Möglichkeit oder H.-C. Straches Versuch mit seinem Rap. Bildpolitisch kann man vor allem sehen, dass die Klassiker wie Celebrity-Politics sehr gerne genutzt werden, zum Beispiel das Auftreten in sportlichen Arenen oder das Agieren mit Stars aus der Medienprominenz, das Ganze aber doch in einer sehr unkoordinierten und nicht gerade zielgerichteten Form, was eine Bildsprache angeht bzw. was Elemente eines Visual Storytelling wären, wie es zum Beispiel Obama macht, der sich doch mit einem sehr großen Team an Fotografen bzw. Bildredakteuren gezielter überlegen kann, was situationsabhängig in einem Wahlkampf passt oder wann gerade man ein Thema lancieren möchte. Da werden je nach Situationen gezielte Bildpolitiken eingesetzt, die dann auch unterschiedliche Adressaten ansprechen können.

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Sie wollen es, er will es: Barack Obama posiert liebend gern für Selfies - mit Schülern bei der "White House Talent Show", im Walmart-Supermarkt mit einkaufenden Menschen oder, immer gern, auch mit berühmten Sportlern.
Foto: AP / Carolyn Kaster

STANDARD: Ein aktuelles Beispiel ist die Fußball-WM. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in der Kabine bei ihrer Nationalmannschaft, wo sie sich mit oberkörpernackten Fußballern fotografieren lässt bzw. bereitwillig für ein Selfie mit Lukas Podolski posiert, der das ebenso umgehend via Twitter verbreitet wie ihr Regierungssprecher das Kabinenfoto. Was erzählt so ein Bild, und was ist daran besonders?

"The Chancellor and me after the victory...": Nach dem 4:0-Sieg der Deutschen gegen Portugal twitterte Lukas Podolski "das versprochene Selfie mit der Kanzlerin" an seine 1,48 Millionen Follower.
Foto: Lukas Podolski via Twitter

Bernhardt: Es ist bei Angela Merkel doch sehr besonders, weil man es immer im Zusammenhang ihrer doch sehr langen Geschichte bildpolitischer Bemühungen sehen muss, die am Anfang nicht besonders gut funktioniert haben. Das Verhältnis mit einer medialen Öffentlichkeit war, gerade was Darstellungen ihres Körpers anging, sehr problematisch. Stichwort Schweißflecken auf einem Abendkleid bzw. das immer wieder sehr negative Adressieren ihrer Frisur bzw. ihres Körpers haben eine gewisse Tradition. Man merkt aber, dass sich das Ganze jetzt durch ihr politisches Standing und ihr sehr professionelles Agieren auch in der medialen Arena gewandelt hat. Sie hat offenbar einen Rollenmodus gefunden, den sie, wenn sie es nicht wirklich lebt, dann doch sehr sehr gut spielt. Ein Foto wie das von Podolski hätte vor einigen Jahren in der Form nicht funktioniert und wäre nicht möglich gewesen. Es wäre für ihn kein Imagegewinn gewesen, sich mit Merkel auf Facebook zu inszenieren. Das hat sich gedreht und funktioniert fast schon so wie bei Obama. Es ist nicht nur so, dass der Politiker gewinnt, weil er sich an den Sportler ranwirft, sondern auch der Sportler oder die Celebrity-Person hat dadurch einen Imagegewinn.

STANDARD: Einer, der mit Bildern meisterhaft Politik macht, ist der amerikanische Präsident Barack Obama. Der Cheffotograf des Weißen Hauses, Pete Souza, der schon Ronald Reagan fotografisch begleitete, schießt am Tag hunderte Fotos und nutzt diverse Social-Media-Kanäle, um das Bild seines primären Fotoziels in Szene zu setzen. Wir kennen die Familie, die Hunde der Obamas, den Gemüsegarten etc. Was erzählt uns Obamas Bildpolitik?

Bernhardt: Die Bildpolitik funktioniert nicht unabhängig von einer Geschichte, die sehr viel mit seiner Biografie zu tun hat. Man hat von Anfang an versucht, die Bildpolitik konsequent mit Obamas familiärem Hintergrund, seinem langen Weg dorthin, wo er jetzt ist, seiner Rolle als erstem afroamerikanischen Präsidenten zu verbinden. Diese Themen werden immer wieder aufgenommen. Ein ganz tolles und berühmtes Beispiel ist ein Foto, auch von Souza gemacht, in jenem Bus, in dem sich Rosa Parks den Sitz erstritten hat. Obama sitzt in diesem Bus und schaut aus dem Fenster. Das ist sicherlich eines der bekanntesten Fotos geworden, teilweise auch extrem euphorisch aufgenommen. Obama ist wirklich der Selfie-König, wenn es in der politischen Arena um Darstellung mit Celebritys geht. Er bedient sehr, sehr geschickt und auch sehr konsequent ein Familienbild, was für alle US-amerikanischen Präsidenten wichtig ist. Die individuelle Ausgestaltung sieht natürlich anders aus. Michelle Obama wird auch immer als sehr starke, unabhängige Frau inszeniert, die für ihre Töchter ein Rollenvorbild ist, die eigene Agenden hat, etwa den Kampf gegen Übergewicht bei Kindern. Es ist extrem wichtig, dass Obama mit Attributen aufgeladen und gezeigt werden soll, die als besonders positiv oder wünschenswert gesehen werden. Da ist Sport natürlich ein wesentliches Element. So wird er gern beim Basketball gezeigt, und dann wird erzählt, dass er seinen ersten Basketball von seinem Vater bekommen hat, zu dem er ja kein sehr enges Verhältnis hatte.

Sinn für Symbolik: Barack Obama nimmt in dem Bus Platz, in dem sich einst Rosa Parks weigerte, ihren Sitzplatz für einen weißen Fahrgast freizumachen - und Pete Souza verewigt es für die Nachwelt.
Foto: Official White House Photograf / Pete Souza

STANDARD: Wo verläuft die Grenze zwischen Inszenierung und Dokumentation einer Präsidentschaft, zwischen Fotojournalismus und Manipulation?

Bernhardt: Das ist eine sehr wichtige Frage. Gerade bei den Obamas ist es ja so, dass die Fotos, die von Souza gemacht werden, zur Verfügung gestellt werden. Das heißt, die Bilder, die in sozialen Netzwerken gezeigt werden, gelten auch als „handout imagery“ für die weitere Verwendung in Medien. Das hat lange Zeit recht gut funktioniert. Allerdings haben sich im November 2013 verschiedene Medienhäuser und Journalisten zusammengetan und ein Protestschreiben an Obama gerichtet, in dem sie artikuliert haben, dass sie sukzessive und mittlerweile auch konsequent von der Abbildung des Präsidenten ausgeschlossen werden und dass das nichts mehr mit freiem Journalismus zu tun hat, sondern ganz gezielt eine Imagepolitik ist, die da bedient wird. Da kann man nicht mehr davon sprechen, dass etwas semidokumentarisch oder dokumentarisch festgehalten wird, sondern dass die wirklich gezielt an der Außenwahrnehmung arbeiten und es da kein Gegenbild mehr gibt. Da ist eine heftige Diskussion im Gange, bei der debattiert wird, was man tatsächlich als Inszenierung ansehen könnte und was gerade noch unter akzeptable Imagepolitik fällt, die ja alle Politiker machen.

STANDARD: Gibt es denn ein objektives Foto, bzw. zeigen Fotos die Welt, wie sie ist?

Bernhardt: Das würde ich definitiv nicht so sehen. Fotografie ist immer auch eine Auswahl, die nicht nur von der Person getroffen wird, die das Foto macht. Die Auswahl eines Kontexts bzw. die Einstellung, die gewählt wird, ist natürlich sehr zentral und relevant. Dann kommt dazu, dass das Ganze in einen sozialen Kontext wie die Redaktionsarbeit eingebunden ist. Es liegt ja meistens eine Serie von Bildern vor, aus der man auswählen kann oder muss. Was nimmt man denn jetzt? Was transportiert die Botschaft, die man vermitteln möchte am besten? Was passiert bei der Auswahl eines Bildes? Was ist kontextadäquat für Journalismus? Was ist schon eine wertende Kategorie? Das alles sind Faktoren, die selbstverständlich gerade bei Pressefotografie extrem häufig diskutiert werden. Das objektive Bild kann es nicht geben, weil es immer subjektive bzw. gesellschaftliche Prozesse sind, die einwirken.

STANDARD: Ein zeitgeschichtliches Dokument ist wohl der Blick in den Situation Room, die Kommandozentrale des Weißen Hauses, wo Obama mit hochrangigen Beratern die Videoübertragung der Gefangennahme von Osama bin Laden anschaut. Hillary Clinton ist die Einzige, der angesichts der tödlichen Kommandoaktion pures Entsetzen ins Gesicht geschrieben steht, alle anderen schauten regungslos zu. Ist sie der Fehler im Bild? Oder beglaubigt ihre Reaktion die ganze Aktion noch zusätzlich moralisch?

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Am 1. Mai 2011 ging dieses Bild von Pete Souza, dem Cheffotografen des Weißen Hauses, via White-House-Fotostream in die Welt. Jeder konnte sehen, wie Obama bei Osama bin Ladens Gefangennahme aussah - interessanter aber war Hillary Clinton.
Foto: AP / White House / Pete Souza

Bernhardt: Zu diesem Bild gab es mittlerweile eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Konferenzen und Publikationen. Und vergangene Woche hat sich Hillary Clinton in der New York Times über dieses Bild geäußert. Sie wurde gefragt: Ja was war’s denn, das blanke Entsetzen angesichts dieser grausamen Aktion? Und sie sagt: „Nein, es ist eine Pollenallergie. Ich habe gehustet.“ Was es tatsächlich war, werden wir nicht rekonstruieren können. Die Akteure bieten uns spezifische Deutungen an. Hillary Clinton versucht jetzt, auch in Vorahnung des Wahlkampfs, eine bestimmte Perspektive einzuziehen. Was Souza tatsächlich kommunizieren wollte, wird sich uns nur in Ansätzen erschließen. Was es definitiv zeigen sollte, ist eine strategische Aktion, ein Zusammenspiel von strategischen Akteuren, die in diesem sicherheitspolitischen Kontext tätig sind. Ob das Foto auch einen Gender-Bias tradieren sollte, also dass die einzige Frau im Raum  –  hinten im Bild ist noch eine zweite angeschnitten –  mit wie auch immer zu decodierendem Entsetzen oder einer Handbewegung, die als so etwas gelesen werden könnten, reagiert –  das wird sich nicht ganz erschließen. Aber man merkt anhand der Deutungen des Bildes und Hillary Clintons Reaktion, dass es doch etwas ist, das die Aufmerksamkeit extrem attrahiert hat, und ich glaube, das war dem Fotografen in diesem Moment auch durchaus bewusst.

STANDARD: Es gibt ja nicht nur den Wettkampf der schönen Bilder, sondern auch jenen der grauenvollen. Nachdem die Terrorgruppe ISIS Fotos und Videos mit Misshandlungen und Exekutionen von Geiseln veröffentlichte, die sich über soziale Medien rasch verbreitet haben, haben Sie in einem Tweet geschrieben: „Denkt nach, bevor ihr Fotos von Terroristen verbreitet, die ihre grauenvollen Taten nur deshalb dokumentieren, damit sie verbreitet werden.“ Welcher Logik folgen solche Terrorbilder? Was ist dabei zu bedenken?

Bernhardt: ISIS ist ein wirklich extrem interessanter Fall, wenn es um Bildpolitik in dem Sinne geht, dass ein Bildakt gesetzt wird, dass etwas getan wird, das bereits mit einer kalkulierten Wirkungsabsicht in einer Medienöffentlichkeit getan wird. Wir wissen in der Forschung über Bilder spätestens seit 9/11, dass Terroranschläge auch diese mediale Rezeptionsebene mitdenken. Das heißt, dass bereits damit kalkuliert wird, wie Bilder verbreitet werden. Und ich glaube, dass bei ISIS nicht nur die mediale Rezeption antizipiert wurde, sondern dass ISIS auch andere strategische Aspekte mitgedacht hat. Momentan ist es so, dass die irakische Armee versucht, Mitstreiter zu gewinnen,  um sich zu verteidigen. Das ist in so einer Situation auch ein Instrument der Demoralisierung des Gegners. Wenn man Bilder von Exekutionen zeigt, wenn man zeigt, wie Menschen in Gefangenschaft geraten, gefoltert werden, dann hat das natürlich eine extrem abschreckende Wirkung. Was auch wichtig ist, beim Teilen dieser Bilder, ist die Autorenperspektive. Man darf nicht vergessen, dass es sich hier ja nicht um einen dokumentarischen Fotojournalismus handelt, der von außen versucht, eine Gräueltat festzuhalten, um der Nachwelt zu zeigen, dass das gerade passiert, sondern dass es sich hierbei wirklich um eine Fotoproduktion handelt, die den Logiken einer Terrororganisation folgt. ISIS hat auch eine App, die sie zur Verfügung stellt, bei der Bilder automatisch auf Twitterprofile gepostet und verschiedene Hashtags automatisch genutzt werden, um Pics zu produzieren, um Trending Topics zu machen. Da ist im Hintergrund eine sehr durchdachte und meisterhaft orchestrierte Medienpolitik. Das ist nicht nur ein brutales Vorgehen und effizientes Vorrücken, sondern das ist auch etwas, bei dem offenbar Leute bereits die Medienlogik, der wir ausgesetzt sind, mitdenken, verstehen, kennen und gezielt für sich nutzen.

STANDARD: Der deutsche Kunsthistoriker Horst Bredekamp sagte in einem Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ einmal, „Neu ist: Menschen werden getötet, damit sie zu Bildern werden.“ Ist das Bild bzw. die Attacke auf die Wahrnehmung der Betrachter eine neue Waffe im Krieg, die Waffe der militärisch Unterlegenen? Ist das neu?

Bernhardt: Das ist definitiv nicht neu. Wenn man darüber nachdenkt, dass 1999 der damalige deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping mit einem Foto von Menschen in Rugova, die getötet wurden, argumentiert hat, dass ein Nato-Einsatz in Ex-Jugoslawien notwendig ist, dann sieht man, dass Bilder als Evidenzen immer wieder herangezogen wurden, um politische Handlungen zu legitimieren. Aber um zu beantworten, ob es tatsächlich eine Waffe ist, die sich an die Wahrnehmung der Betrachter richtet, müsste man sich überlegen: An welche Öffentlichkeit richtet es sich denn? Da bin ich mir bei ISIS gar nicht so sicher, an welche sie sich richtet. Ich würde sagen, es sind mehrere Teilöffentlichkeiten, die da bedient werden. Einerseits sind es die Leute, die tatsächlich noch im Irak sitzen. Ein Foto, das verbreitet wurde, war da besonders interessant: Eine ISIS-Flagge ist gehisst, man sieht den Rücken eines ISIS-Soldaten, und der Text dazu lautet: „Wir kommen.“ Das Ganze im Zusammenhang mit den bereits gezeigten Bildern, die teilweise eine extreme Grausamkeit abbilden, spricht schon konkrete Adressaten an. Gleichzeitig geht es denen natürlich auch darum, dass über ihre Taten diskutiert wird, dass das möglichst breit und international gezeigt wird. Insofern ist es auch eine Öffentlichkeit, die da bedient wird.

STANDARD: Horst Bredekamp sagt, diese Art von Bildern, bei denen Gewalttaten begangen wurden, um Bilder produzieren zu können, seien „systematisch nicht zu zeigen“. Wie sollen Medien mit solchen Bildern umgehen?

Bernhardt: Das ist schwierg. Ich würde nicht ganz so weit gehen wie Horst Bredekamp. Ich bin auch nicht in der Position, Medien Ratschläge zu geben. Aber es gibt Lösungsmöglichkeiten und Ansätze, die durchaus sinnvoll sind. Zeit online hat diese Bilder sehr, sehr genau beschrieben und versucht, ihre Funktionen deutlich zu machen. Was könnte damit gemeint sein, was sollen wir uns denken, wenn diese Gräueltaten in dieser Form gezeigt werden? Und sie hat versucht, Interpretationsangebote zu machen. Sie hat die Bilder aber nicht als Strecke gezeigt, sondern nur ein einziges Foto gebracht, auf dem vorrückende Soldaten auf einem Truck sitzend zu sehen waren. Das war ein relativ neutrales Bild im Vergleich zu den anderen. Man muss der Terrorlogik nicht unbedingt aufsitzen, man muss diese Klaviatur nicht unbedingt bespielen. Man kann auch anders damit umgehen.

STANDARD: Vom Angriff auf die Twin-Towers am 11. September 2011 sind letztlich nur die Flugzeuge, die in die Türme rasen, und die Staubwolken der zusammensackenden Gebäude global im kollektiven Gedächtnis geblieben. Was könnte man diesem monströsen Bildakt entgegensetzen, was eine ähnliche Wirkmächtigkeit hätte?

Bernhardt: Bei so einem außergewöhnlichen Ereignis wie dem Anschlag auf die Twin-Towers ist das Bild extrem dominant. Da würde es auch nichts bringen, wenn man es nicht zeigt. Es war einfach überall. Da wurde der Terror explizit als Bildakt mitkonzipiert. Da wurde bereits durch die Wahl des Anschlagsortes und durch die Inszenierung des Ereignisses sehr gezielt Terror als Bildakt gemacht. Was könnte man dem entgegenhalten? Dazu gibt es auch interessante Studien, dass man doch eine gewisse Logik von westlichen Medien beobachten kann, die in der Bearbeitung von terroristischen Akten eine Abfolge von Berichterstattungsformen bringen. Da wird auch noch weitergedreht, wenn es nichts mehr Neues zu berichten gibt. Dann kommen Betroffene vor Ort zu Wort, die sagen, wie es für sie war, ob sie noch jemanden suchen oder vermissen, wo sie waren, als der Terroranschlag stattgefunden hat. Im Fernsehen bekommt das Ganze oft noch einen dramaturgischen Rahmen mit Musik und Banner. Da könnte man sich überlegen, ob man diese Form nicht einmal durchbricht und, wenn es nichts Neues gibt, nicht versucht, das Thema am Köcheln zu halten, es unbedingt weiterzudrehen. Es ist verständlich, warum das so ist, ob es der Sache dienlich ist, ist eine andere Frage. Da wäre eine medienkritische Reflexion nicht das Schlechteste.

STANDARD: Walter Benjamin hat gemeint, dass die bürgerliche Gesellschaft unbewusst den Hauptzweck hatte, „den Leuten die Möglichkeit zu verschaffen, sich dem Anblick von Sterbenden zu entziehen“. Und in der Tat wurde das Sterben ja in die Hinterzimmer, die Altenheime und Hospize verdrängt. Zugleich gibt es immer wieder Situationen, in denen Tote demonstrativ gezeigt und vorgeführt werden. Welche Funktion hatte es, beispielsweise den toten Mussolini, die Gehenkten der Nürnberger Prozesse, die Leiche Che Guevaras, die hingerichteten Ceauşescus oder den exekutierten Saddam Hussein zu zeigen? Muss eine Information durch das Bild beglaubigt werden?

Bernhardt: Die Frage ist situationsabhängig zu behandeln, weil es unterschiedlich gelagerte Fälle sind. In diesen Fällen ist besonders der eine Aspekt, der Bildern immer gerne zugeschrieben wird, die Evidenzgenerierung, relevant: das Beweisfoto. Stichwort Scharping und Rugova, der damit sagen wollte: „Da seht ihr doch, da kann man nicht mehr wegschauen, da müssen wir etwas tun.“ Vielfach geht es bei solchen Bildern darum, einen Legitimationsgrund zu liefern, warum etwas zwingend notwendig ist. Eine andere Sache ist sicher auch, dass das Bild für einen bestimmten Umstand Beweise generieren soll. Ein Beispiel ist die Saddam-Statue. Das Stürzen der Statue, bei dem die Kameraeinstellung so war, als wäre das jetzt ein großer von der Bevölkerung getragener Bildersturm, obwohl es eine relativ kleine Menschenmenge war. Aber auch da wurde das Bild gezielt so gemacht, dass eine Evidenz generiert wurde und man zeigen konnte: Unser Einsatz aus US-amerikanischer Seite war ja doch ein sinnvoller, da steht ja auch die lokale Bevölkerung dahinter.

STANDARD: Liegt die Dominanz der Bilder, diese regelrechte Bilderschwemme auch daran, dass in Zeiten hochbeschleunigter 140-Zeichen-Kommunikation via Twitter, wo das Wort quasi eingedampft wird, das Bild langfristig die Bedeutungshoheit gewinnen wird oder schon gewonnen hat? Können Menschen, flapsig gesprochen, besser schauen als lesen?

Bernhardt: Ich glaube, sie können es schlechter. Sie glauben, sie können besser schauen. Wenn wir systematisch lernen, Texte zu verstehen, und wenn uns erklärt wird, wie sich eine Grammatik erschließt und wie eine Textlogik funktioniert, dann ist das bei Bildern nicht im gleichen Maße der Fall. Ich erlebe oft bei Lehrveranstaltungen, wenn wir Studierenden ein Foto zeigen und sagen, sie sollen es möglichst neutral beschreiben, dass da sofort eine Wertungsdimension hineinkommt. Es wäre dringend notwendig, einen etwas gebremsteren Zugang zu den Bildern als Teil einer visuellen Kompetenz zu vermitteln. Dass man Leuten beibringt, nicht gleich dem Effekt aufzusitzen, dass das Bild vermeintlich wahrnehmungsnäher sei als der Text –  das ist es ja nicht. Der wirklich furchtbar falsche Satz, dass ein Bild mehr als 1000 Worte sagt, muss dringend widerlegt werden. Dass Bilder Aufmerksamkeit auf sich ziehen, vor allem im politischen Kontext, liegt auf der Hand, sonst würde es ja nicht so intensiv genutzt werden, dass es sich allerdings leichter, schneller oder intensiver erschließt als ein Text, da sind begründete Zweifel notwendig.

STANDARD: Und was heißt das alles für das, was ja auch „in Wirklichkeit“ passiert, aber nicht in Bildern gebannt und für das kollektive Gedächtnis in Erinnerung bleibt? Diese medial marginalisierte Realität, die nicht im Fernsehen oder auf Zeitungs- oder Internetseiten landet –  das existiert dann quasi nicht.

Bernhardt: Das existiert! Ich spreche fast lieber von visueller Politik als von Bildpolitik. Das Reden über Visualität impliziert ja auch immer den Teil, der nicht sichtbar gemacht wird bzw. den, der draußen bleibt. Gerade wenn es um politische Bilder geht, ist es interessant, dass in einer Medienöffentlichkeit ein vergleichsweise beschränktes Repertoire an Bildern auftaucht, dass man eine gewisse Logik bei Medienanalysen erkennen kann, wie Ereignisse, zum Beispiel Demonstrationen, abgebildet werden. Ich glaube, dass soziale Netzwerke durchaus eine Möglichkeit für die Darstellung von Gegenbildern und Gegenperspektiven bieten, die nicht der Medienlogik unterliegen, die besonders ikonische Bilder auswählen will. Das wäre in der Form vor einigen Jahren so sicherlich nicht möglich gewesen. Insofern würde ich mich nicht einer kulturkritischen Perspektive anschließen, die davor warnt, dass jetzt alles in einer Bilderflut untergehen wird. Mit einem gebremsteren, nicht ganz so aufgeregten Umgang mit Bildern kann das Ganze vielleicht auch eine Chance sein und nicht nur eine Bedrohung, dass wir jetzt alle von der „Macht der Bilder“, die es in der Form nicht gibt, erschlagen werden. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 28.6.2014)