Vea Kaiser, geb. 1988 in St. Pölten, studierte Klassische und Deutsche Philologie. Für ihren Roman "Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam" erhielt sie 2011 den Theodor-Körner-Preis.

Am Samstag, dem 12. Juli, liest sie um 21 Uhr im Hanslmann in Steinbach am Attersee.

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Foto: christian fischer

Unlängst war ich bei Freunden eingeladen, und bereits als ich zur Tür hineinschritt, hatte der Gastgeber, ein Neurologe, dieses gewisse Grinsen im Gesicht, als müsse er dringendste Neuigkeiten loswerden. Ich dachte schon, er würde Vater werden, doch nach der Vorspeise platzte er los: "Stell dir vor, Vea", sagte er, "weißt du, was ich unlängst in der Klinik hatte? Einen chinesischen Geschäftsmann mit chronischen Kopfschmerzen! Wir machen alle möglichen Tests, und als ich mir die Bilder aus seinem Kopf anschau', fall' ich fast aus allen Wolken: Der hat sich, wahrscheinlich in Afrika, einen zehn Zentimeter langen Wurm eingefangen, der ihm ins Gehirn gewandert ist und dort an einer Stelle liegt, wo wir ihn kaum rausoperieren können, ohne das Hirn zu schädigen - also hat der sich entschieden, weiter mit dem Wurm im Kopf zu leben."

Wie in der Möbius-Schleife

Kaum sprach er die letzte Silbe aus, trat ihm seine Gattin dermaßen fest gegen das Schienbein, dass er vor Schreck mit dem Knie gegen die Tischplatte stieß, woraufhin zwei Weingläser das Zeitliche segneten und dem Zaum ihrer Zähne wütende Worte entfleuchten: "Ihr zwei seids so grindig!", protestierte sie, und alle weiteren Gäste stimmten zu: Der Neurologe und ich seien manierenlos und grauslich, man könne doch über Parasiten nicht beim Abendessen plaudern und überhaupt am besten gar nicht, das Thema sei doch widerlich.

Dabei sind im Menschen lebende Würmer so unendlich faszinierende Tiere! Mir fällt zum Beispiel kein Lebewesen unter der großen weiten Sonne ein, das eine dermaßen fatalistische Einstellung hat und so sehr auf sein Schicksal vertraut. Der Fischbandwurm zum Beispiel beginnt als mikroskopisch kleines Ei im Wasser. Er vertraut darauf, dass ihn das richtige Krebserl frisst, dieses ein geeigneter Fisch schnabuliert, und erst wenn der Fisch von einem Menschen, einem Hund oder einem Fuchs verspeist wird, kann aus diesem Staubkorn ein bis zu zwanzig Meter langes und zwanzig Jahre altes Lebewesen werden.

Der Bandwurm gibt über den Kot des Wirts seine Eier ab, im Vertrauen, diese gelängen irgendwie ins Wasser und prompt beginnt der Kreis von neuem. Und überhaupt: Ist diese Zyklizität nicht faszinierend? Wie in der Möbius-Schleife geht alles immer weiter; Parasiten erscheinen wie ein Perpetuum mobile, das nur aus sich selbst stetig Neues produziert - in vollendeter Harmonie mit dem Wirt. Wobei: Das ist in den meisten Fällen wohl etwas romantisch gedacht. Zugeben, es gibt auch ein paar ziemlich garstige Vertreter der Spezies, wie Leucochloridium paradoxum, der seinem Zwischenwirt, der Bernsteinschnecke, in die Fühler klettert, woraufhin sich diese riesenhaft vergrößern und bunt leuchten.

Die arme Schnecke

Richtig fies ist wiederum, dass Leucochloridium paradoxum, dieses Gfrast, schließlich das Gehirn der Schnecke manipuliert, auf dass sie auf einen höher gelegenen Ort kriecht, damit ein Vogel die großen bunten Fühler entzückt erspäht und die arme Schnecke, die aufgrund der riesenhaft vergrößerten Fühler keine Chance mehr hat, sich in ihr Haus zurückzuziehen, verspeist - Leucochloridium paradoxum bevorzugt nämlich das Federvieh als Endwirte! Nichtsdestotrotz, Parasiten sind so untrennbar eng mit der Menschheits- und Medizingeschichte verbunden, dass es doch Blasphemie wäre, sie nicht zu bestaunen! Mitunter argumentieren viele Wissenschaftler, dass es sich bei jener Schlange, die sich um Asklepios' Stab windet, ursprünglich um einen im Menschen lebenden Parasiten namens Medina-Wurm handelte. Dieser wandert in seinem Endstadium in die Extremitäten des Menschen, bevorzugt in Füße und Unterschenkel, wo ein Geschwür entsteht, welches bei Kontakt mit Wasser aufbricht und dem Wurm ermöglicht, seine Larven ins Wasser abzugeben, wo sie wiederum vom Menschen aufgenommen werden.

Den Medinawurm entfernte man (bzw. entfernt man auch heute noch), indem man den Kopf, sobald er aus diesem Geschwür schaut, um ein Holzstäbchen wickelt und herausdreht - was Tage dauern kann, nachdem man pro Tag nur dreimal wickeln darf, um den Wurm nicht zu zerreißen. Diese Technik entstand in Mesopotamien lange bevor die Hellenen sich im Mittelmeer niedergelassen hatten, und nachdem auch der Asklepios-Kult mit ziemlicher Sicherheit aus dem Zweistromland stammt, könnte es gut sein, dass hier irgendwann ein Wurm durch eine Schlange ersetzt wurde. Der Medinawurm übrigens bekam in den Achtzigerjahren einen mächtigen Feind: Jimmy Carter, den ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, dessen Stiftung sich die Ausrottung des Medinawurms zum Ziel setzte.

In der österreichischen Geschichte wiederum sind Parasiten von größerer Bedeutung als Mozart, Sissi und all die anderen Niedlichkeiten, deren wir uns rühmen, obwohl wir doch auf unsere Vergangenheit mit den entropen Würmern viel stolzer sein könnten: Man glaubt es kaum, die Helminthologie ist quasi eine österreichische Erfindung. Vielleicht hängt das mit der Vorliebe für Morbidität und Grauslichkeiten zusammen, doch Wien war Ende des 18. Jahrhunderts das Zentrum für die Erforschung der im Menschen lebenden Würmer. Schreibers, Bremser und weitere wichtige Koryphäen forschten emsig und großzügig, vom Kaiser unterstützt. im k. k. Naturalienkabinett, wohin auf kaiserlichen Erlass alle im Körper eines Lebewesens entdeckten Würmer der Kronländer geschickt wurden. Jäger, Fleischhacker, Frosch- und Vogelhändler: alle hatten sie den Auftrag, dem Naturalienkabinett verdächtiges Gewebe abzuliefern, und als die lokale Wurmwelt weitgehend erforscht war, schickte man den jungen Herrn Natterer mit Humboldt nach Südamerika, auf dass er neue und exotische Studienobjeke übersende.

14,8 Meter lang

All die Präparate der damaligen Zeit kann man auch heute noch im Naturhistorischen Museum bewundern. Ach, und einen besonderen Augenstern hat die Sammlung auch zu bieten: den 14,8 Meter langen Fischbandwurm des Geheimrats Samuel von Sömmering - den Wiener Parasitologen persönlich zum Studium übersandt und von diesen zur Freude des Besuchers auf samtblauem Hintergrund edel drapiert. Ein unendlich schöner, ästhetischer Bandwurm, der noch eine viel bemerkenswertere innere Eigenschaft besitzt: Er lern- te tatsächlich des Geheimrats Samuel von Sömmering engen Freund Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe kennen.

Haben Würmer und der Bandwurm insbesondere nicht viel mehr zu bieten, als es von außen scheint? Sie begleiten uns seit Anbeginn der Zeit, und auch wenn wir sie mittlerweile aus uns treiben und jagen können - verlassen werden sie uns nie. Warum also dieser Ekel? Und sollte man diese Frage nicht auf so viele Gebiete des Lebens ausdehnen: Was könnten wir nicht alles noch entdecken, Faszinierendes erfahren, Großartiges lernen, wenn wir nicht von vornherein ablehnten, über manches zu sprechen? Was könnten wir wohl alles Atemberaubendes verstehen, wenn wir öfter unsere Scham, unsere Vorurteile ablegten, um oberflächlich Grauslicheres näher zu betrachten? (Vea Kaiser, Album, DER STANDARD, 12./13.7.2014)