Ihre Nazi-Stadt bleibt Wien: Ruth Klüger.

Foto: Newald

"Mir haben die Ärzte schon vor Jahren gesagt, ich werde nicht mehr lange leben. Und dann lebe ich immer weiter und überlebe die Ärzte." Das sagt Ruth Klüger im berührenden Filmporträt, das ihr die Journalistin Renata Schmidtkunz im Jahr 2011 gewidmet hat. Sie sagt es lakonisch, fast schnoddrig, mit dem ihr eigenen, sehr trockenen Humor. Überleben. Weiterleben. Wie weiterleben? Die Fragen in Ruth Klügers Leben sind große und existenzielle; es sind jene Fragen, die das 20. Jahrhundert so vielen Menschen gestellt hat, Opfern wie Tätern.

Ruth Klüger wird als Susanne Klüger im Oktober 1931 in eine jüdische Wiener Ärztefamilie geboren. Als der Antisemitismus dräut, flieht zunächst ihr Vater nach Frankreich. Er wird später von den Nazis ermordet werden, wie auch Ruths Halbbruder und große Teile der Familie. Ruth ist elf, als die Nazis sie und ihre Mutter Alma ins Konzentrationslager Theresienstadt deportieren.

Es folgen Auschwitz-Birkenau, Groß-Rosen, Christianstadt. Im Februar 1945 rückt die Rote Armee gegen Christianstadt, da schicken die Nazis die KZ-Häftlinge auf einen letzten Todesmarsch nach Bergen-Belsen. Bei diesem Marsch kann Ruth flüchten. Sie schlägt sich nach Straubing in Bayern durch, das die Amerikaner drei Monate später befreien.

Lyrik rettet ihren Verstand

Die Literatur und die Sprache, sie retten Klüger im KZ nicht den Kopf - das hat der Zufall erledigt, sagt sie. Sie retten ihr immerhin den Verstand: "Den habe ich nicht verloren, weil ich Reime gemacht habe." Der Barbarei setzt sie die Lyrik entgegen. Das hält sie über Wasser, bewahrt sie vor dem innerlichen Untergang.

Nur ein Jahr nach Kriegsende, Ruth ist gerade 15, beginnt sie ein Studium an der Hochschule Regensburg. Martin Walser wird ihr Studienfreund. Ihn wird sie später im autobiografischen Roman "Weiterleben" in der Figur des Christoph verewigen. 2002 beendet sie diese Freundschaft mit einem offenen Brief: Sie hat in Walsers Buch "Tod eines Kritikers" ein antisemitisches Werk erkannt.

Den Antisemitismus spürt Klüger auf, wo sie ihm begegnet. Und sie begegnet ihm oft, im Nachkriegsösterreich zumal, das sie jahrelang nur in Ausnahmefällen besucht. "Meine Nazi-Stadt ist Wien", sagt Klüger in Schmidtkunz' Film. "In Wien krieg ich die Freisen, wenn ich länger dort bin. Da atmen die Steine den Antisemitismus."

Worte für das Unsägliche

Bis heute benennt Klüger ohne Scheu, was zu benennen ist; sie findet Worte für das Unsägliche. Ist schonungslos direkt, als gäbe es nichts mehr zu verlieren für sie. "Ich mag es nicht, wenn die Shoah als das Unsagbare bezeichnet wird", sagt Klüger. "Es ist total sagbar. Und an dieses 'Nie wieder' glaube ich nicht.“ Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler bescheinigt Klüger besondere Sensibilität und Unerbittlichkeit. Klüger könne Subtexte lesen. "Sie hat einen feministischen Blick - und einen für versteckten Antisemitismus", sagt Löffler.

1947 emigriert Ruth Klüger in die USA, studiert Germanistik an der University of California in Berkeley. Dort wird sie später die erste Professorin sein. Dabei war ihr die deutsche Sprache, die Tätersprache, lange Zeit unheimlich. Ihren beiden Söhnen lehrt sie sie nie. Dass sie schließlich in die neuere deutsche Literatur findet, hat auch mit dem Erfolg ihrer Autobiografie "Weiterleben" im Jahr 1992 zu tun, das zu ihrer Verblüffung ein Bestseller wird. Das Buch wurde bis heute in zwölf Sprachen übersetzt.

Bekennende Feministin

Klüger prägt die Literaturwissenschaft, unterrichtet an mehreren US-Universitäten als Professorin, arbeitet zu Heinrich von Kleist und gibt eine Fachzeitschrift heraus. Sie interessiert, was Frauen für die deutschsprachige Literatur geleistet haben, betont immer wieder deren Anteil daran, in Vorträgen, Interviews, Büchern. Zuletzt 2010 in "Was Frauen schreiben." Klüger ist nicht nur Intellektuelle, sie ist auch bekennende Feministin, sieht sich als Teil der Frauenbewegung.

Pathos bleibt ihr fremd. Im Film von Renata Schmidtkunz gibt es eine Szene, in der Klüger vor Gedenktafeln in Bergen-Belsen steht, in jenem KZ, in dem sie fast ermordet wurde. Sie nennt die Tafeln "sentimentalen Unsinn". Hier werde Sinn in den Unsinn geführt, damit tröste man sich. "Das sind so Sprüche", sagt sie dann. (Lisa Mayr, DER STANDARD, 31.7.2014)