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"Der Grundpfeiler, der die ganze Kathedrale aufrechthielt": Carel Fabritius' "Distelfink", der Theo Decker so viel Freude und zugleich soviel Leid und Verderben bringt.

Foto: AP/Peter Dejong

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Donna Tartt bei der Verleihung der Andrew Carnegie Medal for Fiction in New York.

Foto: AP / Jason DeCrow

Wien - Die Kunst ist es, die Schönheit, die uns durch dieses Leben voller Enttäuschung, Verlust und Leid bringt. So ähnlich hat das Friedrich Nietzsche gesagt (auch wenn es ihm bekanntlich nicht geholfen hat), und das Zitat ist einem der Kapitel in Donna Tartts im Frühjahr erschienenem Roman Der Distelfink vorangestellt. Und eigentlich ist das sogar das Motto dieses Buches: "Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen."

Alles im Buch dreht sich um diese Verknüpfung: das Grauen des Lebens - und die Schönheit der Kunst, die sich über dieses Elend erhebt. Zusammen finden die beiden Pole in der Geschichte des Theo Decker. Er ist dreizehn, als er seine Mutter bei einem Terroranschlag verliert - sie waren gerade im Metropolitan Museum, in der Schau "Nördliche Meisterwerke des goldenen Zeitalters". Er entkommt der apokalyptischen Trümmerlandschaft, und es ist, als prägte ihn der Moment der Explosion wie eine zweite Geburt.

Das Mädchen Pippa, das er kurz vor der Katastrophe sieht, wird er so obsessiv wie hoffnungslos lieben: "Ich litt unter einem Wahn, und ich wusste es. Schlimmer noch: Meine Liebe für Pippa war unter der Wasseroberfläche mit meiner Mutter vermischt, mit dem Tod meiner Mutter, dem Verlust meiner Mutter, der Unmöglichkeit, sie zurückzubekommen." Neben diesem imaginären Bild einer Liebesbeziehung nimmt er auch noch ein reales mit aus diesem alles verändernden Moment: Den Distelfink des niederländischen Malers Carel Fabritius. Der sterbende Onkel Pippas, dem Theo beistand, nötigt es ihm nahezu auf - und schickt ihn darüber hinaus zu seinem Geschäftspartner Hobie, der in gewisser Weise Theos neue Familie wird.

Vom Regen in die Traufe

Vierzehn Jahre später schreibt Theo seine Geschichte in einem epischen Rückblick auf, und es ist das Gemälde, das ihn darin immer begleitet. "Es war mir Stütze und Rechtfertigung, mein Unterhalt, meine Summe. Der Grundpfeiler, der die ganze Kathedrale aufrechthielt." Und zugleich ist es nicht zuletzt dieses Bild, das Theo in schlimmste Bedrängnis bringt.

Sein Weg nach dem Tod seiner Mutter ist hauptsächlich einer vom Regen in die Traufe - und zurück. Und immer mehr wird er zu dem, was er so gerne verbergen würde: "den Betrüger und Feigling, den Lügner und Trickser". Sein Vater, ein unreifer Kerl, der sich durch sein Leben laviert und ein veritables Suchtproblem hat, hat die Familie längst verlassen. Und so kommt Theo zuerst bei der wohlhabenden Familie seines Schulfreundes Andy Barbour unter. Aus diesem saturierten, mit Wohlstand gepolsterten Hort wird er von seinem Vater und dessen Lebensgefährtin herausgerissen, die ihn nach Las Vegas holen, um ihn dort zu vernachlässigen.

Fälschung, Betrug und Mord

Der traumatisierte Theo trifft dort den leichtlebigen Boris, den zweiten wichtigen Freund neben Hobie. Über ihn schreibt er: "Man begegnete nicht vielen Leuten, die sich so frei durch die Welt bewegten, ihr eine so energische Verachtung entgegenbrachten und gleichzeitig ein so schrulliges und unerschütterliches Vertrauen in das besaßen, was er in der Kindheit gern den 'Planeten Erde' genannt hatte." An Boris' Seite wird Theo zum Trinker, Junkie, Kriminellen. Das gestohlene Bild wird zunehmend zu einem verhängnisvollen Besitz.

Der Distelfink hat die Struktur einer im besten Sinne altmodischen Entwicklungsgeschichte, funktioniert aber zugleich wie ein hochspannender Thriller und erzählt von Kunstdiebstählen, -fälschungen, Betrug und Mord. Vor allem ist Tartt, die für den Roman heuer unter anderem den Pulitzerpreis bekam, eine souveräne Erzählerin. Sie zeichnet ihre Figuren und Schauplätze wie die niederländischen Maler, um die sich so vieles in dem kunstverliebten Roman dreht: lebenssatt und fein beobachtet. Man versteht, was eine der Figuren meint, wenn sie sagt, "dass es bei sehr großen Gemälden möglich ist, sie zutiefst zu kennen, ja, in ihnen zu wohnen".

Sie scheint in jede Figur tief einzutauchen, den Kern ihres Seins herauszuschöpfen - und wird dabei nie unglaubwürdig oder anbiedernd. Selbst eine für die Handlung irrelevante Bahnbedienstete kommt bei ihr zu Ehren: "eine breite, blonde Frau im mittleren Alter mit einem kissenweichen Busen, unverbindlich freundlich wie eine Bordellwirtin auf einem zweitklassigen Genre-Gemälde."

Es wird viel gerätselt und philosophiert in diesem Roman, darüber, wie ein Sinn zu finden sei in diesem so offensichtlich schmerzensreichen Leben. Eine Antwort gibt es nicht; und das ist nur ehrlich. Aber es gibt Sätze, die einen an etwas erinnern, das man möglichst nie vergessen sollte: "Dass es, auch wenn wir nicht immer so froh sind, hier zu sein, unsere Aufgabe ist, trotzdem einzutauchen: geradewegs hindurchzuwaten, mitten durch die Jauchegrube, und dabei Augen und Herz offen zu halten."

So, wie es Donna Tartt mit dem verdreckten, verkorksten, misslungenen Leben des Theo Decker gemacht hat - und damit eine Schönheit geschaffen hat, die vielleicht genauso bleiben wird, wie jene des Distelfinken. (Andrea Heinz, DER STANDARD, 22.8.2014)