"Toleranz ist die letzte Tugend einer untergehenden Gesellschaft" (Aristoteles).

Dieses, so viel sei schon verraten, falsche Zitat geistert seit einigen Wochen nicht nur durch Internetforen aller Art, sondern hat es mittlerweile sogar in einen regulären Text der "Presse am Sonntag" geschafft. Quellenangaben wurden freilich nie angeführt, und Fragen danach wurden in der Regel mit einem Verweis auf das "Internet" abgetan. Man mag das Zitat noch am ehesten in seiner "Politik" erwarten, doch auch hier wird man es nicht finden, denn der große Philosoph hat es nie geschrieben.

Woher stammt es also?

Vermutlich handelt es sich dabei um eine eingedeutschte Version des seit einigen Jahren in konservativen englischsprachigen Foren kursierenden Satzes "Tolerance is the last virtue of a depraved society" aus dem kurzen Text "The New Tolerance" des konservativen evangelikalen Predigers D. James Kennedy aus dem Jahr 2007. Dieser prangert dort, wenig überraschend, den vorgeblichen moralischen Relativismus der Moderne an und zeichnet dabei den Vorwurf der Intoleranz als neue Waffe der Progressiven.

Zitieren und tolerieren

Was lernen wir daraus? Zum einen, dass das Internet das Kursieren von falsch zugeordneten Zitaten, Bildern und Videos noch einmal erleichtert und beschleunigt hat, und dass es bei allem Überfluss an ergooglebaren Informationen letztlich doch ausreichender Bildung und Kritikfähigkeit bedarf, um sich darin zurechtzufinden, Dinge zu hinterfragen und Quellen zu beurteilen.

Zum anderen verweist die Popularität des Zitats aber auch auf eine Art neuem Unbehagen am Ideal der Toleranz, wenn offensichtlich wird, dass Toleranz als gesellschaftliche Tugend gerade durch manche derjenigen gefährdet sein könnte, die unter ihren Schutz fallen.

Die frühaufklärerischen Toleranzschriften von John Locke und Voltaire weisen daher der Toleranz auch klare Grenzen zu, wenn eben deren Grundlage durch einzelne Gruppen oder Instanzen gefährdet scheint – beide hatten dabei zunächst die Katholische Kirche ihrer Zeit im Sinn, der Protestant Locke interessanterweise aber auch die Atheisten, wenngleich er sich darüber später dann doch nicht mehr sicher war.

Aristoteles und die Frage nach dem "Gemeinsinn"

Dieses Unbehagen an der Toleranz bringt uns nun noch einmal zurück zu Aristoteles. Dieser sinnierte im fünften Buch der "Politik" über die Gründe von Revolutionen und gesellschaftlichen Umwälzungen und sieht diese unter anderem durch die Ankunft fremder Kolonisten, wir würden heute vielleicht "Migrationsbewegungen" sagen, verursacht, da er in solchen Gesellschaften einen fehlenden Gemeinschaftssinn befürchtet.

Im Hinblick auf die zunehmende Pluralität an Weltanschauungen, Bekenntnis(losigkeit)en und Religionen (vergleiche die Diskussion um Wien) stellt sich so die Frage, welche Vorstellungen von einer liberalen, demokratischen Gesellschaft wir haben und in welcher Gesellschaft, mit welchen "Gemeinschaftssinn" wir eigentlich leben wollen.

Auf welchen Symbolen, verbindlichen Grundsätzen, Tugenden, Werten und Sinnperspektiven bauen wir unsere Gesellschaft auf? Und keiner glaube, dass es hier schon einen breiten Konsens gibt.

Was sind die, über das rein Rechtliche hinausgehenden, Prinzipien, die wir als gesellschaftlichen Grundkonsens benötigen und die wir einfordern dürfen? Hier gilt es, sich nicht nur verbal auf hehre Phrasen und Begriffe (Menschenrechte, Würde etc.) zurückzuziehen, sondern diese konkret werden zu lassen, in der Politik, im Zusammenleben, in der Bildung, in der Gesetzgebung und vielem mehr.

Dies ist eine Aufgabe für alle, egal von welchem weltanschaulichen Hintergrund sie kommen, die an einem friedlichen Zusammenleben und an der Würde der Einzelnen interessiert sind. (Christian Feichtinger, derStandard.at, 26.8.2014)