"Angespannt versuche ich, mich über die Runden eines Drehbuchs zu bringen", schreibt Franz Schuh in "Sämtliche Leidenschaften". Das Bild zeigt den Autor in seiner Wiener Wohnung.

Foto: Heribert Corn

Man stelle sich vor: Franz Schuh und Otto Brusatti Ende der Sechzigerjahre als Bundesheersoldaten wochenlang im rudimentären Unterstand und auf Patrouille hoch oben in den Tiroler Bergen, knapp unterm Gletscher, zum Grenzschutz gegen Südtiroler "Bumser". Auf den Zuruf "Mahler, die Erste!" oder "Bruckner, die Siebente!" trällert Brusatti das genannte Musikstück.

Ein Foto von damals zeigt den Schützen Schuh (im Nachhinein sieht er mit Verwunderung, er sei "schön" gewesen) gebückt lauernd am Felsen, das Gewehr im Anschlag. Dazu Bilder aus der Militärmisere, dazu Einblicke: Den "Dreck der Manipulation, die emotionale Pest, Leute hinzukriegen, für ihnen fremde Zwecke hinzukriegen, damit sie das Fremdeste ihrer Natur als ihr ureigenstes Anliegen ansehen", könne man seit Jahrhunderten am Militär studieren.

Das sei hier nicht die Isonzofront, habe Brusatti gesagt; darauf Schuh: Es sei "der Krieg als Anschein", ein Simulacrum, im lateinischen Wortsinn ein ähnliches Bild. Damit ist im Übertragenen ein Gestaltungsprinzip angesprochen. Und sechzig Seiten weiter liest man als eine der subtilen Fortführungen des Themas in einem Leitmotiv, der Ich-Erzähler simuliere "Gespräche mit Lili".

Sämtliche Leidenschaften, das neue Werk von Franz Schuh, erzählt in eigensinnigen Spiralen, sodass diese Prosa einen eigenen Drive erhält. Erinnerungen, Anekdoten, Szenen sprechen für sich und werden zu Vergleichsgrößen, zu Denkimpulsen. "Das Ich setzt sich selbst", schreibt der Philosoph Johann Gottlieb Fichte. Erst jetzt verstehe er, auf seine Art, "dieses Gesetz und Geheiß", schreibt Schuh.

In Sämtliche Leidenschaften setzt er sein Selbst als Erzähl- und Denkfigur, sich gegenüber eine junge Frau, zu der er spricht, der er zusprechen möchte: Lili Fichte. Und der Verlagslektor, bekundet eine der ironischen Volten, habe herablassend gemeint, "meine Prosa bekäme mit dem Auftauchen von Lili Fichte etwas mehr Schwung". Lili ist eines der Elemente, die diese wunderbar merkwürdige Prosa ordnen, akzentuieren, zusammenhalten, sodass sie mit all ihren Abzweigungen in einem genüsslich zu lesenden Bogen dasteht.

"Ich glaube", beginnt Schuh mit starker Ich-Setzung, die er sogleich buchstäblich auf zwei Ebenen in Fluss bringt, "sagte ich, auf dem Floß unruhig auf und ab gehend." Das folgende kurze Naturbild sowie die offenbar für einen Filmdreh arrangierte Situation geben den Rahmen für eine Reflexion über Individualität und Tod. Derart sind Themen und Schemen angespielt, ihre Variationen und oft überraschenden Sprünge bewirken einen starken Lesesog. Dazu tragen wesentlich sowohl die philosophischen Ansätze als auch die Geschichten von früher und der ausgefeilte Sprachwitz bei ("Angespannt versuchte ich, mich über die Runden eines Drehbuchs zu bringen"). Schuh schafft einen besonderen Rhythmus, der auf gefinkelten Wortwiederholungen, Szenenfolgen und Unterbrechungen durch Assoziationen beruht.

Die Szenen überschneiden sich zunehmend: von Großmutter, Vater und Nachbarn, von Geliebten und Medienleuten, von Brillen und künstlichem Gebiss, von ehemaligen und heutigen Berühmtheiten, vom Englischlehrer und von Radiosendungen. Im ersten Teil des Buches scheinen die Erzählmäander einem "Bewusstseinsflimmern" geschuldet, bis es heißt: "Wie passt das alles zusammen?" Es passt. Indem der Erzähler, wie er schreibt, sich konzentriert, "damit mir vom Flimmern nichts entgeht und ich immer über das Verschwimmen im Bild bin" - im Bild sein: ein Doppelsinn.

Den zweiten Teil entwickelt Schuh aus Schlaglichtern über den Kriminalroman ("die Literatur der Zwangslagen") und seinem Geständnis, die U-Kultur nicht geringzuschätzen (sein Leben lang habe er "die Kluft zwischen unterhaltsamem Unfug und elaboriertem Geist nicht anerkennen können"). In die eigenen unterhaltsamen Espritschleifen des Mannigfaltigen mischt er Bemerkungen zur heimischen Politik (des Bundeskanzlers "Parasitenproblem"), zum Sumpf des Zeitungsboulevards, der "aber auch wirklich alles" zum Blühen bringe.

Der dritte Teil schließlich geht vom Tiroler Wehrdienst unterm Gletscher aus, kommt vom Nachtmarsch auf einen Nacktmarsch mit einer Kollegin. Das gesetzte Ich ist (unbezahlter) Rundfunkphilosoph und Frühstückskoch im Café Formanek, Kurgast in Schärding und "Meister des narzisstischen Schelmenromans".

Und immer wieder liest man Perlen der Formulierlust des Franz Schuh, der mitunter auch auf Kalauer zurückgreift. Einige seiner Worte vermögen geradezu als Merksätze zu dienen: "Nur ungern teilen die besitzenden Klassen mit den besitzlosen, aber wenn sie teilen, dann am liebsten den Glauben." Oder: "Dass die Natur ja ein Projekt der Künstlichkeit ist ..., unterschlägt man, weil man glauben möchte, die Natur ist das ganz Andere."

Es ist ein Erzählen, das keinem Ziel zustrebt, sondern viele kleine Ziele im Auge hat und im Ganzen zur Unterhaltsamkeit der Erkenntnissuche führt - die hohe Sprachkunst, vom Thema abzukommen und bei der Sache zu bleiben. (Klaus Zeyringer, Album, DER STANDARD, 30./31.8.2014)