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Graffiti auf Geschichte: Denkmal mit 20.000 Namen von Kommunismus-Opfern in Sofia.

Foto: Reuters

Frühmorgens, wenn das erste Tageslicht wieder durch die beschlagenen Fenster schimmert und die kleinen, immer noch nicht ganz ungefährlichen Straßentunnel vor der Grenze bewältigt sind, tauchen linker Hand die "Alten Berge" auf, die Stara Planina. Es ist der Eingang in die vergessene Ecke Europas, in ein verschlafenes kleines Land nach zehn, zwölf Stunden Busfahrt aus Wien.

Im Plattenbau in Sofia wartet das Frühstück, kleine Heferinge, in Öl ausgezogen, mit viel Staubzucker und Marmelade. Ungesund, aber gut. Aus dem Küchenradio sind die Nachrichten zu hören, mit sonorer Stimme verlesen. Ist es 1989 oder 2014? Ganz sicher ist man sich in Bulgarien nie.

Misstrauen

35 Jahre hat Todor Schiwkow hier regiert. Am Ende war er der am längsten herrschende Parteichef im Ostblock, und als Schiwkow am 10. November 1989 scheinbar mühelos vom Zentralkomitee entlassen wurde, einen Tag nach dem Fall der Mauer in Berlin, blieben die Bulgaren misstrauisch.

Sie glauben nichts auf den ersten Schlag, bis heute. Immer lauert ein Rest an Vorsicht im Umgang mit Fremden und vor allem mit den eigenen Landsleuten, zum Schutz oft verborgen hinter einem mürrischen Gesicht. Der Eiserne Vorhang, der bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs über das Balkanland am Schwarzen Meer fiel, ist nie wirklich ganz verschwunden.

"Passives Volk"

Genau besehen hatte dieser Vorhang auch nur eine Lücke - zur Sowjetunion. Bulgariens Nachbarn im Süden - Griechenland und die Türkei - waren im feindlichen Militärpakt Nato; Titos Jugoslawien war aus dem Ostblock ausgeschert und nicht mehr verlässlich; aber selbst nach Norden, in Rumänien, wo Nicolae Ceausescu, das selbsternannte "Genie der Karpaten", herrschte, lag auf beiden Seiten der Grenze eine Sperrzone, wohin Angehörige des Militärs oder Geheimnisträger des Regimes nicht ohne Genehmigung reisen durften.

Ceausescus Regime ging in Gewalt und Blut unter, der Despot selbst wurde zusammen mit seiner Frau nach einem Schnellverfahren am 25. Dezember erschossen. Ganz anders in Bulgarien. "Die Bulgaren sind ein passives Volk", hörten westliche Reporter oft, als sie im November 1989 nach Sofia kamen, um auch in diesem Balkanland die Wende zu beobachten: keine Großdemonstrationen, keine Jubelschreie.

Beginn der Wende in Bulgarien

Als Eco-Glasnost, eine Umweltbewegung mit demokratiepolitischer Agenda, am 3. November mehrere Tausend Sympathisanten für einen Marsch in Sofia sammeln konnte, war das schon viel. Und doch begann Europas Wendejahr 1989 in Bulgarien.

Im Jänner jenes Jahres kommt Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand zu einem Staatsbesuch nach Bulgarien. In der Hauptuniversität in Sofia ist eine Diskussion mit Studenten angesetzt. Was er denn über Länder denke, wo sich Diktatoren gegen den Willen des Volkes an der Macht halten, will ein junger Mann von dem Franzosen wissen.

Todor Schiwkow sitzt an Mitterrands Seite. Der erwidert listig: "Unter manchen Umständen ist es wichtiger, eine Frage zu stellen, als eine Antwort zu erhalten." Am nächsten Morgen lädt Mitterrand zwölf regimekritische Köpfe zum Frühstück in die französische Botschaft. Der Philosoph und spätere Präsident Schelju Schelew ist darunter. Etwas bewegt sich in Bulgarien, wenn auch nur langsam. 25 Jahre später gehen die Bulgaren tatsächlich auf die Straße: gegen die Oligarchen, die Intransparenz, für eine wirkliche Demokratie. (Markus Bernath aus Sofia, DER STANDARD, 6.9.2014)