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Ian McEwan auf der Höhe seiner Kunst: Mit seinem neuen Roman "The Children Act" trifft er den Nerv der westlichen Welt.

Foto: APA/EPA/ALBERTO ESTEVEZ

London/Heidenreichstein - Manchmal muss das Übersetzen von Buchtiteln einer Folter gleichkommen. The Children Act heißt der neue Roman des englischen Autors Ian McEwan. Die Protagonistin Fiona Maye arbeitet als Richterin am Londoner High Court, Spezialgebiet Familienrecht. Der Titel bezieht sich auf das "Kindergesetz", vom Parlament 1989 erlassen und mit dem schönen Satz eingeleitet: "Das Gericht misst dem Kindeswohl vorrangige Bedeutung bei." Und so wird der Roman Kindeswohl heißen, wenn er im Jänner bei Diogenes erscheint.

Aber die drei Wörter im englischen Titel könnten auch einen Satz aus Subjekt und Prädikat darstellen: "Die Kinder agieren." Normalerweise ist das im Gerichtssaal natürlich tabu. Fiona wird konfrontiert mit den schrecklichen Egoismen enttäuschter Liebender, die ihren Trennungshass nun im Kampf um die gemeinsamen Kinder ausleben. Sie hält sich an das Gesetz und setzt das Kindeswohl über alles andere. Doch die Akteure im Gerichtssaal sind Erwachsene, die Kinder bleiben in den Akten versteckt.

Freilich wird im englischen Gesetz nicht unterschieden zwischen Kindern und Jugendlichen, und wo verläuft eigentlich die Grenze zum Erwachsensein?

Unbequeme Erfahrung

Die Frage stellt sich Fiona, als ihr der dringende Fall eines knapp 18-Jährigen, hochintelligenten Leukämiepatienten vorgelegt wird. Eine Bluttransfusion könnte Adam Henry retten; doch dieser ist als Zeuge Jehovas aufgewachsen und verweigert den Eingriff, gemeinsam mit seinen Eltern, deren einziges Kind er ist. Was tun? Fiona verlässt den Gerichtssaal und begibt sich ans Krankenbett. Da beginnt das Kind, besser gesagt der Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenen, zu agieren - für Adam wie für Fiona eine neue, unbequeme Erfahrung.

Nach der von der Kritik eher durchwachsen beurteilten Wissenschaftssatire Solar (2010) und dem Spionagebuch Honig (2012) hat McEwan wieder einen Gesellschaftsroman geschrieben, wie er ihm mit Zementgarten (1978) und zuletzt mit Saturday (2005) gelang: eine Momentaufnahme der britischen Gesellschaft, ja der westlichen Welt. Der Streit zwischen säkularem Recht und religiösen Dogmen, das Tauziehen zwischen familiärer Pflicht und individueller Selbstverwirklichung, die Spannung zwischen Berufsethik und persönlichem Impuls - diese Themen bieten Diskussionsstoff in allen westlichen Industriegesellschaften. McEwan hat sie auf lediglich 213 Seiten brillant verarbeitet.

Noch im vergangenen Jahrhundert stand der Romancier ein wenig im Schatten bekannterer Zeitgenossen wie Julian Barnes, Salman Rushdie oder Martin Amis. Spätestens mit Abbitte (2001) hat sein Ruhm die Kollegen, vielfach auch Freunde, erreicht oder übertroffen. Stärker als früher beteiligt sich der 66-Jährige an gesellschaftlichen Diskussionen. Wohl nicht zufällig drehte sich die größte Kontroverse um eine Bemerkung des bekennenden Atheisten zur Religion. Da musste sich McEwan vom Britischen Muslimenrat als "islamophob" bezeichnen lassen, weil er "Abscheu" vor islamistischen Fundamentalisten geäußert hatte.

Nach Margaret Thatchers Tod im April 2013 entdeckte der Sohn eines Berufssoldaten in der obsessiven Beschäftigung der Nation mit der eisernen Lady einen "Hauch von Erotik": "Mit ihrer eisigen Art befeuerte Margaret Thatcher die masochistischen Fantasien der (männlichen) Nation." Zuletzt beteiligte sich McEwan an Protesten dagegen, dass Strafgefangene keine Bücherpakete von Freunden und Verwandten mehr erhalten dürfen: "Hinter Gittern stellen Bücher eine Überlebenshilfe dar."

Rührt aus solcherlei Engagement die ein wenig lauwarme Reaktion mancher Kritiker? James Walton schrieb im konservativen Telegraph von einem "Ertragsrückgang", je länger Kindeswohl dauere.

Ohnehin seien McEwans Bücher selten Romane, eher lange Novellen. Außerdem habe sich McEwan mit religiösen Fanatikern jeglicher Couleur einen "zu leichten Gegner" vorgenommen. Hingegen lobte Kate Kellaway im linksliberalen Observer eine "Prosa von ungewöhnlicher Klarheit und Kontrolle".

Tatsächlich zeigt sich McEwan an der Schwelle zum Pensionsalter auf der Höhe seiner Kunst. Für Saturday trieb er sich in Operationssälen herum, studierte den Alltag von Neurochirurgen, deren Urteil und Fingerfertigkeit über Leben und Tod entscheidet. Diesmal mischte er sich unter Spitzenjuristen. Die Hochachtung vor deren Sprachfertigkeit ist ebenso spürbar wie sein Amüsement über manch formelle Gespreiztheiten.

Was der Neurochirurg Henry Perowne in Saturday an einem einzigen Tag erlebt, dem 15. Februar 2003, als Millionen Menschen gegen den drohenden Irak-Krieg demonstrierten, erstreckt sich in The Children Act über sechs Monate, das zweite Halbjahr 2012 nämlich. Allzu offenkundige Bezüge zu wirklichen Ereignissen, etwa den Olympischen Spielen in der britischen Hauptstadt, erspart sich der Autor. Und doch liefert er in vielerlei treffenden Details ein getreues Bild seiner Gesellschaft und seiner Stadt, insbesondere der Mittelschicht, in der er selbst zu Hause ist - die "Ignoranz und Verachtung" des Nordlondoner Bürgertums gegenüber dem "unermesslichen, schäbigen Wirrwarr" südlich der Themse; die aus Amerika ins Land der Teetrinker herübergeschwappte Kaffee-Obsession ("sie mochten ihn stark, in hohen, weißen, schmalrandigen Tassen, aus hochwertigen kolumbianischen Bohnen gemahlen, mit gewärmter, nicht heißer Milch").

Am Ende sind die Leser und Leserinnen mit Fiona Maye - und Ian McEwan - älter und ein wenig weiser geworden. (Sebastian Borger, DER STANDARD, 27.9.2014)