Individuell, mobil, digital - auch in der Bildung

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STANDARD: Die Generation Y wird vieles in der Arbeitswelt auf den Kopf stellen, geht es nach der Einschätzung von Personalverantwortlichen. Welche Herausforderungen und Chancen orten Sie für diese Generation?

Dräger: Ich sehe die Generation Y positiver als andere. Es geht doch um viel mehr als nur um ein entspanntes (Arbeits-)Leben. Das, was diese Generation ausmacht, ist ihre große Bereitschaft zu teilen und ihre starke Vernetzung. Mit dieser Kombination lassen sich Probleme schneller und besser lösen als zu Zeiten, als man noch die Bücher in der Unibibliothek versteckte. Diese Art der Kollaboration - durchaus auch zum eigenen Nutzen - hat zuvor noch keine Generation in dieser Radikalität gelebt.

STANDARD: Welche Auswirkungen hat diese Bereitschaft der Generation Y auf das Bildungssystem und das Lernverhalten?

Dräger: Schüler und Studenten wussten in der Summe schon immer mehr als ein einzelner Lehrer oder Professor. Aber erst durch die selbstverständliche Vernetzung wird dieser Wissens- und Methodenvorsprung jetzt sichtbar. Das stellt geradezu die klassische Wissenspyramide auf den Kopf und verändert die Autorität und Rolle des Lehrers. Und es wird auch das Lernverhalten radikal verändern, weil die Bereitschaft abnimmt, im Klassenzimmer oder im Hörsaal zu sitzen und der Weisheit eines Einzelnen zu lauschen. Peer-to-Peer-Learning wird hingegen an Bedeutung gewinnen - mit weniger eindeutigen Antworten, dafür aber mehr kreativen und innovativen Lösungen.

STANDARD: Werden die Veränderungen in der Bildung von dieser Generation auch angetrieben?

Dräger: Vieles passiert schleichend, das Peer-to-Peer-Lernen mit Sprachtandems ist dafür ein gutes Beispiel: Wer heute Japanisch lernen möchte, sucht sich einen Japaner, der Deutsch lernen möchte. Und über Skype geht das eben in weiten Teilen auch ohne Sprachlehrer. Überhaupt wird die Digitalisierung das Lernen und die Rolle des Lehrers radikal verändern. Im sogenannten umgekehrten Klassenzimmer, dem 'flipped classroom', eignen sich Schüler mittels Lernspielen oder Videos ihr Wissen zunächst zu Hause an. Im Klassenzimmer können dann gemeinsam mit dem Lehrer und den Mitschülern Übungsaufgaben gemacht und offene Fragen besprochen werden. Hier wird die Lernlogik umgedreht. Der 'flipped classroom' ermöglicht es dem Lehrer, mehr Zeit mit den einzelnen Schülern zu haben und diese individuell zu fördern. Der Lehrer wird so zum persönlichen Lernbegleiter.

STANDARD: Durch die Digitalisierung wird die Bildung revolutioniert ...

Dräger: Jedenfalls hat sie das Zeug dazu. Wichtig ist aber, dass dahinter sinnvolle pädagogische Konzepte stehen. Bisher geht es bei digitaler Bildung fast nur um Massifizierung, wie bei den sogenannten Massive Open Online Courses (Moocs). Das sind bislang oft nicht mehr als digitale Massenkopien klassischer Vorlesungen. Das eigentlich revolutionäre Potenzial der Digitalisierung besteht aber darin, intelligente Systeme zu entwickeln, die sich auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen einstellen und individuelle Lernwege ermöglichen, also Bildung personalisieren. Nicht für alle das Gleiche, sondern für jeden das Passende. Gute digitale Bildung leistet beides: Massifizierung und gleichzeitig Personalisierung.

STANDARD: Über Reformen in der Bildung wird schon sehr lange diskutiert. Wo sehen Sie die wichtigsten Stellen, um Hebel anzusetzen?

Dräger: Ganz wichtig ist der Ausbau von Kinderkrippen. Denn nirgends lohnen sich Bildungsinvestitionen mehr als im frühkindlichen Bereich. Mehr Lernzeit in den Schulen durch sinnvolle Ganztagsmodelle zu schaffen, wäre ein weiterer wichtiger Aspekt. Die anspruchsvollste, aber nicht die teuerste Aufgabe wird sein, Lehrer für individuelle Schülerförderung fortzubilden. Das ist komplex, und dafür gibt es in der Politik keine Lorbeeren zu gewinnen, aber darin liegt der Kern erfolgreicher Bildungssysteme. Darüber hinaus wird es zu einer stärkeren Verzahnung zwischen dualer Ausbildung und Hochschulstudium kommen müssen. Und lebenslanges Lernen sollte ernster genommen werden: Bildungseinrichtungen müssen dafür modularisierte kleinere Lerneinheiten anbieten.

STANDARD: Warum sind modularisierte Lerneinheiten von so großer Bedeutung?

Dräger: Solange die kleinste Einheit an der Uni ein Bachelor von mindestens drei Jahren ist, wird es schwierig, höhere Bildung in den Berufsalltag zu integrieren. Es ist wichtig, dass wir nicht länger Credit Points für studentische Arbeitszeit vergeben, sondern auf das Ergebnis schauen. Hier gibt es bereits erste Kompetenzraster für einzelne Berufsbilder. So kann jeder unabhängig von seinem Bildungsweg nachweisen, was er bereits gelernt hat. Und dabei ist es egal, ob man sich diese Kompetenzen in kleinen Häppchen oder über ein Vollzeitstudium angeeignet hat.

STANDARD: Das hört sich jetzt nach einem europäischen Qualifikationsrahmen an. An den nationalen Qualifikationsrahmen als Voraussetzung dafür wird bereits gearbeitet ...

Dräger: Ein noch stärker auf Kompetenzen ausgerichteter Qualifikationsrahmen sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene wäre sinnvoll. Bei der Anerkennung von informeller Bildung sind andere Länder jedenfalls weiter als Deutschland oder Österreich.

STANDARD: Wie groß schätzen Sie den akuten Handlungsbedarf für Veränderungen im Bildungssystem ein?

Dräger: Weder Deutschland noch Österreich stehen vor einer Katastrophe, wir haben ein vernünftiges Bildungssystem. Wir müssen auch nicht überstürzt handeln, aber entschlossen agieren. Unsere Gesellschaft verändert sich rasant, da muss auch das Bildungssystem mithalten. (Gudrun Ostermann, KarrierenStandards 2014)