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Punkte im Zeitmeer: Gertrud Leutenegger.

Foto: APA/EPA/ARNE DEDERT

An jenem Morgen im April, als auf einmal vollkommene Stille im Luftraum über London herrschte, lief ich zum Trafalgar Square. Der Platz lag noch im Schatten, nur hoch oben auf seiner Säule, in unerreichbarer Einsamkeit, stand Lord Nelson schon im Sonnenlicht." Die Ich-Erzählerin in Gertrud Leuteneggers Roman Panischer Frühling läuft. Und geht durch die Stadt. Als finanziell abgesicherte Flaneurin.

Die Mitte des Lebens um ein weniges überschritten, hält sie sich in London auf, für längere Zeit. Denn sie gönnt sich eine Auszeit vom bisherigen Leben. Im East End hat sie eine Wohnung gefunden, durchwandert die Straßen der Themsestadt, kommt ins Gespräch mit Nachbarn, Verkäufern, Passanten. Sie lässt sich treiben. London scheint merkwürdig abgeschnitten. Es ist die Zeit des Vulkanausbruchs auf Island, welcher im Frühjahr 2010 den internationalen Flugverkehr nahezu zum Erliegen bringt.

Die Gegenwart und die technisch dominierte Zivilisation durchweben ob des einschneidenden und vom Menschen nicht zu bändigenden Naturschauspiels panische Gefühle, Empfindungen der Brüchigkeit und entzogener Sicherheiten. Die Protagonistin ist magnetisch, vieles an Beobachtungen fliegt ihr zu, in den Straßen, in Kirchen, noch mehr davon löst Assoziationen aus an ihre erwachsene Tochter, die als Forscherin im Amazonasgebiet unterwegs ist.

Auf der London Bridge fällt ihr ein junger Verkäufer einer Obdachlosenzeitung ins Auge, sie kommen ins Gespräch. Sie erzählt von ihrer wohlbehüteten Kindheit und Ferien im alten, geräumigen Pfarrhof des Onkels, einem "Haus ohne Fluchtbedürfnis", er davon, wie er als Waise von der Großmutter in einem kleinen Küstenstädtchen in Cornwall großgezogen wurde, wie ihn die anderen Kinder lange grausam malträtierten. Dann verschwindet er, und sie bricht auf nach Penzance, um ihn ausfindig zu machen.

Seit fast vierzig Jahren publiziert die in Schwyz geborene Gertrud Leutenegger nun. Im Frühjahr 1975 erschien, da war sie noch als Vorschullehrerin tätig, im Suhrkamp-Verlag, der ihr und ihrem Werk bis heute treu geblieben ist, etwas wahrlich Ungewöhnliches in immer schnelleren Zeiten und dem Vorrang der Werbe- gegenüber den Lektoratsabteilungen, ihr Debüt Vorabend. Zwei Jahre später - sie war inzwischen als Regieassistentin ins Theater übergewechselt, später amtierte sie als Kustodin des Nietzsche-Hauses in Sils-Maria - erschien mit Ninive eine Arbeit, die stilistisch anders war, ein anderer, höherer Ton wurde von ihr darin angestimmt. Doch die ihr eigene Melange war auch darin erneut zu finden: die sanfte Verquickung poetischer Erinnerungen an die Kinderjahre mit Anspielungen auf Literatur und Kunst, Naturdeskriptionen und Einfangen alltäglicher Vorgänge und Vorgehensweisen.

Schon damals hörte die Kritik aus ihren Büchern einen leisen, aber unüberhörbaren Protest wider die Welt heraus, wie sie beschaffen ist. Und wie sie nicht sein sollte. Schon damals war das Binnenprinzip ihrer Sätze, die einem zielgerichteten, platt-realistischen Erzählen sich verweigern, ein schwebendes, ineinander verfließendes. 1978 erhielt sie den Hauptpreis des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs, zu dem sich später, in regelmäßigen Perioden, weitere, darunter auch große und durchaus namhafte Auszeichnungen gesellten.

Folgten in den 1980er-Jahren in stetigem Abstand Buch auf Buch, von unter anderem Gouverneur (1981) über Kontinent (1985) bis Meduse (1988), so nahm sie sich in der folgenden Dekade immer länger Zeit. Zwischen Acheron (1994) und Pomona (2004) lagen zehn Jahre, Matutin erschien im Jahr 2008. Und nun, wiederum sechs Jahre später, Panischer Frühling, ein fluider Erzähltext, mit dem sie, die Stille, die dem Literaturbetrieb Abholde und dem breiten Publikum grenzenlos Unbekannte, ihre größte Anerkennung gefunden hat, inklusive Nominierung für den Deutschen Buchpreis. Weil sie hier mit einer nicht ganz zu Unrecht monierten mythischen Aufladung bricht. Stattdessen gibt sie sich dem Sog strömenden Imaginierens hin.

Das Schicksal des jungen Mannes wird kontrastiert mit dem historischen Faktum, dass während des Zweiten Weltkriegs Londoner Kinder nach Cornwall in Sicherheit gebracht und Pflegefamilien übergeben wurden, was nach einigen Jahren zu traumatischen Trennungen führte. Die Sprache wird zum phantasmagorischen Strudel von Blicken, Emotionen, von Punkten im Zeitmeer, in dem Gegenwart und Vergangenheit keine Bedeutung mehr besitzen.

Dabei ist es aber keineswegs dithyrambisch oder sich zu einem Poem in Prosa entwickelnd, vielmehr unangestrengt heiter. "Flachen Kieseln ähnlich hüpften die Lichtfunken auf der Themse. Sie hatten den schuppigen Glanz meines Kindes in jenem Traum, lange bevor es auf die Welt gekommen war, in einer Geburtstagsnacht meiner Mutter in ihrem dunkelnden Haus. Ein Fischkind! Staunend hielt ich es nah vor mein Gesicht." Ein Prosawerk, wie es ein solches länger nicht mehr in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gegeben hat. (Alexander Kluy, DER STANDARD, 4.10.2014)