Die E-Mail-Kommunikation neu erfinden: Nicht gerade bescheidene Ziele hat sich Google für seine vor kurzem vorgestellte "Inbox" gesetzt. Seit die ersten E-Mails verschickt wurden sind Jahrzehnte vergangen, seitdem ist die Flut an Nachrichten stetig angewachsen, bei den meisten Nutzern längst eine stete Überforderung eingetreten. Bisherige Mail-Lösungen tragen diesem Umstand aber kaum Rechnung, und haben über die Jahre nur schrittweise Verbesserungen vorgenommen. Stückwerk also. Mit Inbox will man hingegen aus den gesammelten Erfahrungen die nötigen Schlüsse ziehen, und so manches Konzept grundlegend hinterfragen. Klingt schon mal ganz interessant, also hat sich der WebStandard eine Einladung besorgt und den neuen Service einer eingehenden Prüfung unterzogen.

Die Hauptansicht von Inbox listet, wie von anderen Mail-Clients gewohnt, die aktuellen Nachrichten chronologisch auf. Hier werden aber Bilder, Anhänge und zentrale Inhalte prominent dargestellt.
Grafik: Google

Vorab gleich ein Spoiler: Inbox ist eigentlich kein vollständig neues Service, sondern eine Art Gmail 2.0. Im Hintergrund werkt weiter der gewohnte Mail-Service von Google. Auf dieser Basis nimmt Inbox aber eine Reihe von Änderungen vor - manche davon durchaus grundlegender Natur. So wird das Konzept der Mail-Ansicht genau genommen auf den Kopf gestellt. Anstatt zu überlegen, welche Mails gelöscht werden, sollen die Nutzer künftig auswählen, welche erhalten bleiben. Diese werden dann "gepinnt". Alle anderen können in Folge in einem Rutsch archiviert werden. Wobei der Begriff "archiviert" eigentlich nicht mehr korrekt ist. Google bezeichnet solche Mail nun als "erledigt" - und daraus lässt sich durchaus ein Rückschluss auf die dahinter stehende Denkweise ziehen. Die Inbox von Inbox soll nicht länger eine simple chronologisch sortierte Ansammlung von Mails sein, sondern eine To-Do-Liste des digitalen Alltags.

Snooze

Dieses Konzept wird noch durch andere Funktionen unterstützt: So können Mails vorübergehen "schlafen gelegt" (Snooze) werden. Die betreffende Nachricht verschwindet dabei aus der Inbox, und taucht zu einem festgelegten Zeitpunkt - oder Ort - automatisch wieder auf. Wer also etwa ein Mail erhält, das er erst nach dem Wochenende bearbeiten will, kann dies bis dahin verräumen. Beim Erreichen des Arbeitsplatzes erfolgt dann eine automatische Erinnerung.

Per "Snooze" können Mails und Reminder auf einen späteren Zeitpunkt oder Ort verschoben werden.
Screenshot: Andreas Proschofsky

Zur To-Do-Orientierung passen die Reminder: Inbox ermöglicht das Erstellen kleiner Erinnerungen, die ebenfalls für einen gewissen Zeitpunkt oder Ort festgesetzt werden können. Diese landen direkt neben den Mails in der Hauptansicht der Anwendung. Ähnliches bietet Google Now schon seit einiger Zeit, dort gesetzte Reminder werden denn auch automatisch von Inbox übernommen. Umgekehrt wirkt die Integration aber noch nicht ganz ausgereift: In Inbox gesetzte Reminder tauchen nur dann bei Google Now auf, wenn zusätzlich ein Datum oder Ort festgelegt wurde. Angesichts der Zielsetzung von Google Now zwar verständlich, aber eben auch verwirrend, wenn es an unterschiedlichen Orten unterschiedlich umfangreiche Reminder-Listen gibt. Nett ist dafür, dass es beim Anlegen von Remindern eine automatische Vervollständigung gibt, die auf das eigene Adressbuch zugreift, und im Bedarfsfall gleich mit weiteren Informationen wie der Telefonnummer anreichert.

Reichhaltig

Doch auch die Mailübersicht hat Google stark verändert - oder um es genauer zu benennen: Angereichert. Statt der gewohnten Überschriften / Anreißer-Kombination versucht Inbox die wirklich zentralen Inhalte herauszustreichen. Seien es Bilder, Videos oder Mail-Anhänge, alle werden sie in einer Miniaturversion direkt angezeigt, ohne das eigentliche Mail öffnen zu müssen. Zudem borgt sich Inbox einige Ideen von Google Now: Sämtliche Mail-Inhalte werden automatisch analysiert, um daraus die zentralen Informationen zu extrahieren. Dies macht es möglich, dass etwa eine Bestellbestätigung gleich mit einem Foto des erworbenen Produkts sowie einem Link zur Paketnachverfolgung dargestellt wird. Bei Hotelreservierungen werden die zentralen Daten hervorgehoben und mit einer Minikarte versehen, ähnliches gibt es bei Flugbuchungen. All das heißt aber auch: Wer prinzipielle Datenschutzbedenken gegen eine solche maschinelle Auswertung der eigenen Mails hegt, sollte sich besser von dem Service fernhalten. Das gilt aber eigentlich schon für Gmail - und für Google Now sowieso.

Google analysiert für Inbox die Inhalte der Mails und liefert die wichtigsten Daten auf den ersten Blick - und zwar bereits in der Nachrichtenübersicht.
Screenshots: Andreas Proschofsky / derStandard.at

Ein weiteres grundlegendes Konzept sind die "Bundles": Mit diesen werden thematisch verwandte Mails automatisch zusammengefasst. Dadurch enthält dann die Inbox beispielsweise nur einen gemeinsamen Eintrag für alle Einkäufe, erst der Klick darauf offenbart die gesamte Liste an Mails. Wem das bekannt vorkommt, der hat durchaus recht: Im Grunde ist das die nächste Generation der bei Gmail gebotenen "Smart Labels". Nur allerdings wesentlich schlauer implementiert, muss hier doch nicht zwischen mehreren Tabs gewechselt werden. Alle Mails werden in einer gemeinsamen Ansicht präsentiert.

Anpassung

Von Haus aus definiert Google eine Reihe solcher Bundles, dazu gehören unter anderem Reisen, Einkäufe, Benachrichtigungen und Werbung. Neben der automatischen Einordnung können Mails auch gezielt einzelnen Bundles zugewiesen werden, woraus das System wiederum für die Zukunft lernt. Zudem können eigene Bundles erstellt werden - quasi die gemeinsame Nachfolge für die Folder und Labels von Gmail. Für jedes dieser Bundles lassen sich individuelle Einstellungen festgelegen. Also etwa ob die darunter fallenden Nachrichten in der Inbox doch einzeln statt gruppiert angezeigt werden sollen.

Über den Menüknopf kann der Sidebar eingeblendet werden. Dort sind unter anderem die Bundles erreichbar.
Screenshot: Andreas Proschofsky

Auch gibt es die Möglichkeit sämtliche Nachrichten eines Bundles automatisch als "erledigt" zu markieren, womit sie nie in der Hauptansicht zu sehen sind. Und es dürfen natürlich auch individuelle Filterregeln festgelegt werden, wie es von klassischen Mail-Clients bekannt ist. Etwas das hier übrigens wesentlich übersichtlicher gestaltet ist als bei Gmail. Ein netter Bonus: Es kann eingestellt werden, wie oft die Bundles in der Haupt-Mailansicht landen. Von Haus aus werden sie durch jedes neue Mail wieder dort platziert. Wer will, kann dies aber auch auf einmal täglich oder gar nur wöchentlich beschränken.

Material Design

Bei der grafischen Umsetzung all dessen setzt Google ganz auf das "Material Design", das auch eine wichtige Basis des kommenden Android 5.0 bildet. Und das heißt vor allem: Starke Highlight-Farben und viel Weißraum. Sowohl im Web als auch bei den mobilen Anwendungen wird beinahe der gesamte Bildschirm von der Mail-Ansicht eingenommen, die mittels eines Knopfs schnell zwischen der Anzeige aller oder nur der gepinnten Mails gewechselt werden kann. Nachrichten werden direkt in der Mail-Liste geöffnet, mittels Sidebar gibt es Zugriff auf all die Bundles, sowie die Liste aller erledigten oder "gesnoozeten" Mails. Auch die Reminder, der Mistkorb und das Spam-Verzeichnis können auf diesem Weg erreicht werden. Und über all dem thront die zentrale Suchbox, mit der sowohl aktiv genutzte als auch bereits "erledigte" Mails rasch aufgespürt werden können.

Die mobile App unter Android. Für ortsbezogene Funktionen müssen zuerst die notwendigen Berechtigungen vergeben werden.
Screenshots: Andreas Proschofsky / derStandard.at

Der Umgang mit Nachrichten unterscheidet sich hingegen zwischen den mobilen Apps und dem Web-Client. Während im Browser bei jedem Beitrag Knöpfe zum "Snoozen" und Erledigen angehängt sind, erfolgen diese Vorgänge in den Apps über Wischgesten nach links beziehungsweise rechts. Beiden ist hingegen ein Knopf zum Pinnen von Nachrichten gemein. Etwas mühsam ist hier wie da das Verschieben eines Beitrags in ein bestimmtes Bundle, wird dies doch über einen Menüeintrag abgewickelt. Gerade im Web vermisst man in diesem Zusammenhang schnell Drag & Drop. Zumindest gibt es aber wieder eine Reihe von Tastatur-Shortcuts mit dem all dies zumindest etwas beschleunigt werden kann. Ebenso unerfreulich ist, dass sich Bundles - im Gegensatz zu den Gmail-Labels - nicht mehr individuell farblich festlegen lassen. Selbst angelegte Bundles erscheinen damit immer in schnödem Grau.

Recent

Neue Mails und Reminder werden über einen Knopf angelegt, der fix im unteren rechten Eck des User Interfaces positioniert ist. Und dieser bietet ein hilfreiches Extra: Werden dabei doch gleich die häufigsten Kontakte zum Schnellzugriff geboten - was oftmals das manuelle Eingeben einer Mail-Adresse erspart. Was weniger gefällt: Die Größe des Fensters zur Erstellung neuer Nachrichten ist fix festgelegt. Antworten auf bestehende Mails werden hingegen direkt unter der betreffenden Nachricht verfasst - wie es auch schon bisher bei Gmail der Fall ist.

Nachrichten können in den mobilen Apps per Swipe als "erledigt" markiert oder "gesnoozet" werden (links). Die Mail-Ansicht unter Android samt Reply-Knopf. (mitte). Bei der ersten Nutzung informieren sowohl Web-Client als auch Apps mit zahlreichen Hilfedialogen über die grundlegenden Prinzipien. (rechts)
Screenshots: Andreas Proschofsky / derStandard.at

Während die grundlegenden Konzepte von Inbox wohl durchdacht wirken, weist der aktuelle Stand der Entwicklung aber auch das eine oder andere Defizit auf. So funktionieren etwa all die ortsbasierten Funktionen erst dann, wenn Inbox die nötigen Berechtigungen erteilt werden - was allerdings nur in der mobilen App geht. Ein entsprechender Hinweis wird im Web nicht geliefert. Auch sonst wirkt die konkrete Umsetzung unter Android und iOS etwas stimmiger, was wohl nicht zuletzt daran liegt, dass hier manche Dinge dank Swipe-Gesten einfach flotter von der Hand gehen. Dafür weist die Android-App wiederum den einen oder anderen Darstellungsfehler auf.

Chrome only

Eine weitere Einschränkung: Der Web-Client ist derzeit eigentlich ein Chrome-Client, anderen Browser werden momentan nicht unterstützt. Eine sicherlich technisch zu argumentierende Entscheidung, und doch für die weitere Entwicklung des Webs keine sehr erfreuliche. Bleibt zu hoffen, dass Google bald auch andere Browser unterstützt. Immerhin beschränkt man sich im mobilen Bereich auch nicht nur auf Android. Zudem sei angemerkt, dass Inbox momentan nur mit Gmail- und nicht mit Google-Apps-Accounts funktioniert.

Weitere Kritik

Weniger erfreulich ist zudem, dass es keine Möglichkeit gibt Bundles im Sidebar zu verstecken. Bei Gmail klappte dies noch mit Labels. Dies ist für all jene lästig, die größere Events wie Reisen unter einem Bundle zusammenfassen und auch so für das später Nachschlagen behalten wollen. Immerhin wird so die Liste der Bundles immer länger - und unübersichtlicher. Und wenn wir schon beim Sidebar sind: Dass dort in keinster Weise ersichtlich ist, wie viele ungelesene Mails in einem Bundle sind, mag zwar aufgeräumter wirken, vermisst man aber schnell mal. Ebenso wie eine Möglichkeit den Mistkübel manuell zu entleeren.

Die Menüzeile von Inbox enthält neben den Benachrichtigungen von Google+ auch jene der Hangouts.
Screenshot: Andreas Proschofsky

Einen etwas fahlen Beigeschmack hinterlässt auch die Integration des Messengers Hangouts: Über ein Icon in der Menüzeile wird angezeigt, wie viele ungelesene Nachrichten es dort gerade gibt. Ein Klick darauf offenbart ein Dropdown mit den aktuellsten Chats. Wer will kann diese Liste aber auch fix als zweiten Sidebar rechts positionieren. Warum all das überhaupt hier angezeigt wird - noch dazu auf andere Weise als bei Gmail oder Google+ - erschließt sich nicht wirklich. Insofern wäre es schön, wenn die Nutzer diese doch recht offensive Form der Integration auch deaktivieren könnten. Amüsanterweise findet übrigens die Inbox-Suche keinerlei Chat-Protokolle aus Hangouts-Diskussionen - während das Gmail sehr wohl tut. In Summe scheint es also unklar, in welche Richtung sich Google in Fragen Hangouts gerad bewegt - falls man das überhaupt selbst weiß.

Fazit

Trotz der erwähnten Defizite: Google macht bei Inbox vieles richtig. Auch wenn es in den offiziellen Statements anders tönt, ist der neue Service eher eine - im Kern durchaus stimmige - Evolution von Gmail denn ein gänzlicher Neuanfang. Das wirklich Wichtige wird geschickt in den Vordergrund gestellt, gleichzeitig helfen das To-Do-Konzept und die Bundles den Mailwust leichter im Griff zu behalten. So manche der Ideen von Inbox gab es zwar schon vorher bei anderen Clients wie Mailbox zu sehen, Google reichert dies aber mit weiteren Zutaten an, und verbindet es mit den Stärken von Gmail und Google Now.

Umdenken benötigt

Und doch: Dass Inbox ein Erfolg wird, ist alles andere als sicher. Zwar verlangt man den Nutzern bei weitem nicht so viel ab, wie dies bei früher angekündigten Mail-Revolutionen wie Google Wave der Fall war, trotzdem benötigt Inbox doch ein gewisses konzeptionelles Umdenken. Das ist wohl auch Google bewusst, woraus sich wiederum erklärt, warum Inbox als separates Service gestartet wird und nicht einfach das bisherige Gmail ersetzt.

Invite only

Eine Anmerkung zum Schluss: Inbox kann bisher nur nutzen, wer eine Einladung dafür erhält. Diese kann entweder per Mail bei Google angefordert oder von anderen Nutzern weitergegeben werden. Zur Zeit scheinen allerdings nur Google-Angestellte das Recht zu haben, Einladungen weiterzureichen. Wann eine weitere Öffnung erfolgt, ist derzeit noch unklar. (Andreas Proschofsky, derStandard.at, 24.10.2014)