Die East Side Gallery hat von einem der Urväter der Mauergalerie gerade ein Make-over verpasst bekommen; ein Ire bespielt die Stadt seit fünf Jahren mit Karaoke-Shows; und das Basteln auf dem Gelände des Reichsausbesserungswerks könnte bald schon ein Ende haben. All das passiert jetzt in Berlin. Aber was passiert, wenn man das mit kleinen Kindern erleben will?

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Illustration: Armin Karner

Versuch 1: Mauer schauen

Am 9. November ist es 25 Jahre her, dass die Mauer fiel, die Berlin 28 Jahre lang teilte. "Warum machen die Leute so etwas?", fragt Frida und will sie sofort sehen, diese böse Mauer. Wir fahren zur East Side Gallery an der Oberbaumbrücke, die Friedrichshain mit Kreuzberg verbindet. Leichte Enttäuschung macht sich breit, denn so böse schaut sie gar nicht aus. Im Gegenteil: Die großflächigen Bilder und Graffitis entlang der Spree-Promenade sind bunt und lustig. Das entschädigt für den erlittenen Sensationsausfall. Recht bald ist die Mauer auch für die Kinder Geschichte.

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East Side Gallery

Oskar will in die Spree und wirkt wenig zugänglich für Erklärungen zu Wassertemperatur und mangelnden Schwimmkenntnissen. Frida verlangt nach Futter, wäre aber auch mit neuer Ablenkung zufrieden. Wir können beides bieten, schließlich sind wir gut vorbereitet und machen uns auf in die Knilchbar, ein Kindercafé am Boxhagener Platz.

Auf der Karte: Suppe, Quiche, Buttermilchwaffeln und Babybrei - alles hausgemacht und preislich moderat. Zum Spielen: ein Kletterhäuschen und eine Holzkugelbahn - alles sehr liebevoll gestaltet. Die Kinder sind glücklich, nur wir haben anfangs Schwierigkeiten, uns bei der enormen Spielzeugdichte auf Tischen, Bänken und am Boden zu entspannen.

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"Dein zweites Zuhause" lautet das Motto der Knilchbar. Zusammen mit der Hausschuhpflicht und einem nur allzu bekannten Tohuwabohu klingt das für uns eher wie eine Drohung. Wir bemühen uns trotzdem, den Latte macchiato zu genießen, dessen Biobohnen selbstverständlich fair gehandelt und in der Nachbarschaft liebevoll geröstet wurden.

Versuch 2: Drachenrutschen

Den Nachmittag gehen wir taktisch an, wollen die Kinder auspowern, bevor wir in die Berliner Subkultur abtauchen. Ganz in der Nähe unserer gemütlichen Friedrichshainer Bleibe, die wir über das Internetportal Airbnb gefunden haben, gibt es gleich vier Spielplätze, wie eine einschlägige Website verrät.

Wir gehen zweimal ums Eck, wo zwischen den Häusern recht unerwartet ein freundlicher Riesendrache hervorlugt. Die Kinder muss man nicht zweimal bitten, sich vom Drachen verschlingen zu lassen und über Rutschen wieder ausgespien zu werden. Berlin ist vermutlich Spielplatz-Welthauptstadt: überall große Themenanlagen wie der Drachen-, der Pipi-Langstrumpf-, der Robin-Hood- oder der Dschungelspielplatz. Auch die kleinen sind fantasievoll und abwechslungsreich gestaltet. Nur Google Maps entpuppt sich bei der Suche danach ahnungslos.

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Karaoke am Mauerpark

Direkt gegenüber vom Drachenspielplatz liegt die Kinderwirtschaft, das vielleicht beste Kindercafé der Stadt. Kleine Menschen werden hier ernst genommen: Ein Stockerl vor der Eisvitrine verschafft ihnen Einblick, die vielen Sorten dürfen vor der schwierigen Kaufentscheidung gekostet werden. Frida vergibt zehn von zehn Punkten, Oskar äußert sich nonverbal, aber eindeutig positiv: "Mmmmhhh!" Auf der Speisekarte sucht man "Pinocchio-Schnitzel" oder "Kasperl-Würstel" vergebens. Es gibt frische Kürbissuppe, Quiche und natürlich "Nudeln nackig" - bekanntermaßen der Renner beim kleinen Volk.

Frida verschwindet nach dem Essen in einem Einbaukasten, der ihr als geheimes Kletterlabyrinth dient. Und aus dem Plastikkugelbad, wie man es von einem schwedischen Einrichtungshaus kennt, ertönt ein entzücktes Glucksen - Oskar ist abgetaucht.

Versuch 3: Subkultur basteln

Wir machen uns auf den Weg in die Revaler Straße, eine Hauptschlagader der Berliner Subkultur. Auf dem Gelände des ehemaligen Reichsausbesserungswerks gibt es zahlreiche Clubs, Gaststätten und jeden Sonntag einen Flohmarkt. Das Areal ist allerdings vom Abriss bedroht, der östliche Teil soll einem Komplex für Nobelwohnungen weichen. Noch leisten Vereine und Lokalbetreiber hartnäckig Widerstand.

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Urban Spree

In der Urban Spree Galerie findet ein Workshop-Special mit 30 internationalen Künstlern statt. In der Halle wimmelt es vor kreativen Köpfen, es ist der Himmel für DIY-Fundis: T-Shirts werden bedruckt, Schmuckstücke gefertigt, Pinselschriften erlernt, Bambus-Fahrräder gebaut, Grußkarten bestickt - und ganz Abgebrühte tätowieren sich selbst.

Wir freuen uns, dass wir noch keine Kinder im Teenageralter haben, für die das wohl alles zu uncool wäre, und folgen Frida zum Aquarellworkshop der ukrainischen Künstlerin Ola Liola. Das Wolfsporträt, das unter ihrer Anleitung entsteht, bekommt zu Hause einen Ehrenplatz. Oskar ist unterdessen zum Besetzer eines Holz-Cabrios geworden und fordert lauthals Anarchie im Kinderwagen - meinen wir jedenfalls verstanden zu haben.

Drei Fabrikshallen weiter hat sich der Berlin Design Market ausgebreitet. Eine Leistungsschau der Kreativwirtschaft, begleitet von kulinarischen Experimenten und mehreren DJs. Oskar beschnuppert eine Dame an den Plattentellern und wippt seinen dicken Windelpopo im Takt zu den Electrobeats. Bloß die japanischen Fusion-Burger kommen beim Gourmet-Nachwuchs weniger gut an, wir fahren zurück in unsere Wohnung - Grießkoch rules!

Versuch 4: Rocken im Park

Es ist Sonntag, die herbstliche Sonne gibt noch einmal alles. Wir wollen zum bekannten Flohmarkt im Mauerpark. Die Ringbahn befördert uns ins Berliner Bobo-Epizentrum mit der höchsten Kinderwagendichte: Prenzlauer Berg.

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Flohmarkt am Mauerpark

Seit der Bezirk inoffiziell "Pregnancy Hill" heißt, muss man sich hier keine großen Gedanken um kinderfreundliche Plätze machen. Die sind für die Hipster-Eltern mit Hang zum Biodynamischen längst geschaffen worden. Bei unserer Recherche stießen wir gleich auf mehrere State-of-the-Art-Babybuden - eine davon sogar mit eigener Kinderfriseurin.

Im Mauerpark spielt eine Percussion-Combo Techno - analog, denn digital kann heute eh jeder -, und feinsinnige Singer-Songwriter schmettern sich in die Herzen ihrer Zuhörer. Nebenan im Amphitheater veranstaltet der Ire Joe Hatchiban seine Karaoke-Show, die "total Kult" ist, wie eine Berlinerin erklärt. Und wieder ein paar Meter weiter fordert der Frontman einer Funk-Band: "Hey, komm, wir retten Berlin!" Wir hatten eigentlich nicht das Gefühl, dass Berlin gerettet werden müsste. Die von Piraterie noch unbeleckte Frida drängt zum CD-Kauf.

Mit diesem Souvenir in der Tasche brechen wir auf zum Regenbogenspielplatz am anderen Ende des Mauerparks. Das ist nur einer von drei Spielplätzen im buntesten Grünstreifen der Stadt. Lebendiger könnte der frühere "Todesstreifen" zwischen Ost- und Westberlin gar nicht sein. (Gertraud Gerst und Nicole Janata, DER STANDARD, 8.11.2014)