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Gaza-Demonstration in Lissabon: Dort wie hier ist es von Israelkritik zur Judenfeindschaft nicht weit.

Foto: Reuters/Correia

Daheim als Kind, sagt der 18-jährige Mehmet, hätten er und sein Zwillingsbruder Garip (Namen geändert, Anm.) über Juden nie etwas gehört. Auch über Kriege hätten sie nur wenig erfahren. Zwar wüssten sie, dass der Großvater in Korea als Soldat der türkischen Brigade gekämpft und der Vater, der vor zwanzig Jahren aus der Türkei nach Österreich kam, den Militärdienst im türkisch besetzten Teil Zyperns verbracht habe. Aber nicht, was die beiden dabei erlebt hätten.

Begonnen, sich über Krieg und über Juden Gedanken zu machen, hätten Garip und er vielmehr erst vor wenigen Jahren - vor dem Fernseher in der elterlichen Wohnung im 20. Wiener Gemeindebezirk. Dort liefen nur türkische Programme, mit unter anderem Beiträgen über den israelisch-palästinensischen Konflikt.

Diese sowie manche Youtube-Videos aus Gaza (die vielfach gefälscht sind, Anm.) hätten in ihnen den Zorn auf die Juden entfacht - sodass sie einst zu der Ansicht gelangt seien: "Israel führt nicht gegen Palästinenser Krieg, sondern gegen den Islam."

"Leben als richtiger Muslim"

Daran erinnert sich Mehmet, der sonst mit Politik nur sehr wenig anfangen kann. Der als eines seiner wichtigsten persönlichen Ziele ein "Leben als richtiger Muslim" nennt. Der in Jeans, Sweater und gestricktem Häubchen auf dem Kopf zum vereinbarten Treffen in die Jugendeinrichtung Back Bone in Wien-Brigittenau kommt: so wie sich viele junge Männer stylen. Nur sein Chin-Strap, ein von einem Ohr zum anderen führender Bart, signalisiert seinen muslimischen Hintergrund.

Wie sein eher schweigsamer Zwillingsbruder leistet Mehmet seit seinem 15. Lebensjahr harte Arbeit auf Baustellen - inzwischen sind sie fertig ausgebildete Maurer. Ein solcher so früh im Leben - für europäische Verhältnisse - erlebter Existenzkampf mache Jugendliche besonders sensibel für "Gefühle der Ungerechtigkeit", sagt Fabian Reicher, der sich als Sozialarbeiter im Back Bone schwerpunktmäßig gegen Antisemitismus bei jungen Leuten mit Einwanderungshintergrund einsetzt.

Mit anderen Menschen, die Unrecht erlebten, identifizierten sich junge Hilfsarbeiter und prekär Jobbende rasch. Doch mangels ausreichenden Wissens über das Funktionieren von Medien und wegen fehlender politischer Bildung falle es ihnen schwer, authentische Informationen von Propaganda zu unterscheiden, wie sie zum Beispiel rund um den Israel-Palästina-Konflikt in hohem Ausmaß kursiert.

Christliche Klischees

Das, so Andreas Peham, Rechtsextremismus- und Antisemitismusforscher beim Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, sei ein Einfallstor für salafistische, antisemitische Indoktrinierung, die "die Juden" als Todfeinde "der Muslime" darstellt. Wobei, das ist Peham wichtig, Antisemitismus ebenfalls bei Burschen und Mädchen anderer familiärer Provenienz existiere.

Etwa bei manchen, die aus ursprünglich serbischen oder polnischen Familien kommen. Hier jedoch entstamme das Feindbild des Juden dem diesbezüglichen christlichen Repertoire. Auch, so Peham, sei die Rolle der österreichischen Aufnahmegesellschaft hinterfragenswert. Hier herrsche infolge der zumindest teilweisen Reflexion über die Beteiligung von Österreichern am Holocaust zwar ein "offizieller Philosemitismus", also eine Zugewandtheit zum Judentum. Doch hätten judenfeindliche Äußerungen mancherorts immer noch "integrationsfördernde Wirkung".

Und auch der Judenhass in Neonazi-Kreisen sei nach wie vor ein Faktor. Muslimische Jugendliche seien mit dem Antiislamismus dieser Rechtsextremen konfrontiert, die vielfach eine, historisch betrachtet, paradoxe Unterstützung der starken militärischen Präsenz Israels an den Tag legen.

Mehmet und Garip sind für Sozialarbeiter Reicher "Vorzeigebeispiele" - trotz ihrer früheren israel- und judenfeindlichen Äußerungen. Weil sie es gewagt haben, einen Schritt weg vom Ressentiment hin zur Realitätsprüfung zu machen. Vergangenen Herbst nahmen sie zusammen mit sieben weiteren Back-Bone-Besuchern an einem viertägigen Jugendaustausch Wien / Tel Aviv teil.

Angst vor eigener Courage

Vor der Abreise waren ihre Befürchtungen groß: "Wir dachten, dass alle Juden in Israel Feind sind mit Muslimen", schildert Mehmet. Bei der Einreise fanden sie dies scheinbar bestätigt: "Die drei von uns, die türkische oder arabische Namen haben, wurden am Flughafen gründlich überprüft.".

Doch dann seien sie ins Hostel gefahren, in dem sie in Tel Aviv wohnten. Seien dort auf die Terrasse hinausgetreten - und was hätten sie erblickt? Gleich drei Minarette. Abends wie morgens sei von dort der Muezzin-Ruf erschallt; in Österreich bislang undenkbar. "Dass das gerade in Israel erlaubt ist, konnte ich anfangs fast nicht glauben", sagt Mehmet.

Überhaupt geschah ihm und Garip in der Folge Unerwartetes: Im Bestreben, im Heiligen Land als gläubige Muslime erkannt zu werden, hatten sie ihre Bärte vor der Reise lang wachsen lassen. Da Bartwuchs aber auch ein Erkennungszeichen gläubiger Juden ist, sahen sie sich in Israel mehrmals mit Einladungen auf offener Straße konfrontiert, doch bei einem der drei täglich vorgeschriebenen jüdischen Gebete mitzumachen.

An der Ablehnung der israelischen Palästina-Politik habe sich bei den Brüdern durch die Reise nichts geändert, zieht Jugendarbeiter Reicher Bilanz. Aber der Dämonisierung Israels gingen die beiden nicht mehr so einfach auf den Leim. (Irene Brickner, DER STANDARD, 29.11.2014)