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Kleist-Preisträger Marcel Beyer, mit Romanen wie "Flughunde" und "Kaltenburg" berühmt geworden, bestellt virtuos das weite Feld der modernen Poesie.

Foto: Schiffer-Fuchs/Interfoto/picturedesk.com

Wien - Romanschriftsteller Marcel Beyer (49) besitzt beste Autorenreferenzen. In Neuss am Niederrhein aufgewachsen, gehört der heute in Dresden Lebende zu denjenigen Dichtern, die Natur und Kultur auf unerhörte Weise ineinander verschränken.

Wer Beyer sagt, musste bis vor kurzem auch Kling sagen. Thomas Kling (2005 an Krebs verstorben) und sein geringfügig jüngerer Kollege sind bzw. waren Archäologen. Gedichte wie die 37 meist langen in dem Band Graphit markieren, um mit Brecht zu sprechen, technisch höchsten Standard. Vorbei die Zeiten des Experiments. Beyer, der Kleist-Preisträger, behilft sich mit der einfachsten Form des Strophenbaus. Vier Verse bilden einen Abschnitt.

Der Zusammenhang, der die einzelnen Bild- und Lautströme vorantreibt, wird nicht metrisch hergestellt, sondern durch knappe Fügung. In Sankt Petersburg herrscht, wie Beyer schreibt, etwas wie "Endreimstimmung". Das ist natürlich ein Witz, weil sich hier - mit wenigen, gut versteckten Ausnahmen - gar nichts reimt. "Komm ins Offene", ist man versucht zu sagen, weil Marcel Beyer die Geheimniskrämerei nicht scheut. Dichter sind natürlich Schamanen, die mit okkultem Wissen Schabernack treiben. Wer kennt schon die Lebensgeschichte der Heiligen Wilgefortis, der bärtigen Jungfrau, die hier auf kurzen Versfüßen den Rhein hinauf bis in die Schweiz und weiter nach Südtirol wandert (im Gedicht Timide, timide)?

Der Schnee, schreibt Beyer im titelgebenden Eröffnungstext, ist ein "schwindendes Objekt". Wer sein Vorkommen bezeugen will, muss sich rätselhafter Artefakte bedienen. Als Regisseur Sergej Eisenstein 1938 Alexander Newski dreht, braucht er Schnee, viel Schnee, und "einen zugefrornen See". Mit Schneekanonen kann die stalinistische Kulturbürokratie nicht dienen. Also lässt Eisenstein einen ganzen Wald roden. Die kahle Landschaft wird asphaltiert, den Schneeauftrag bildet ein "lichtaufsaugendes Gemisch / aus Naphtalin und Kreide".

Auf Newskis Spuren

Beyer aber spricht die Spur an, die der Präparator Newski hinterlässt. Der Dichter zeichnet sie mit dem Graphitstift nach: "Durch einen Schneesturm keucht / sie hier, die Schrift? Auf der / Leinwand sehen wir Newskis / Truppen, Lumpenproletariat // durch Mottenpulverwolken waten". Newskis Filmgesicht ist "eisern". Noch fehlt der Vision das Wichtigste: der Atem. Vor Newskis Mund kein Hauch. "Hier werden Winterschlachten / grundsätzlich auf die Musik / geschnitten. Sollen Guderians / Panzerdivisionen kommen." Das ist atembenehmend klug gedichtet. Man hat die Musik von Sergej Prokofjew augenblicklich im Ohr. Die tote Landschaft - das Waste Land des Sowjetkommunismus - wird durch die deutschen Invasoren einer neuerlichen Verwüstung ausgesetzt, einer solchen, die alle vorherigen aufhebt.

Die Lyrik darf sich von allen Literaturgattungen den geringsten Zuspruch erwarten. Magier wie Beyer fallen keineswegs hinter den Stand der Dinge zurück. Sie überschreiben zum Beispiel Georg Trakl lautlich (An die Vermummten) und finden plötzlich Platz für Osama Bin Laden und dessen Tötung: "RASEND PEITSCHT GOTTES ZORN den Heli übers Anwesen, / Stroboleuchten ertasten zwei braune Augen, mehr nicht." Es ist die Poesie, die die Spuren sichert. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 5.12.2014)