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Polemiken waren sein Tagesgeschäft: Karl Kraus, "Fackel"-Herausgeber und großer Satiriker der Wiener Moderne, wird von Jonathan Franzen auf seine Aktualität geprüft - und gefeiert.

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Leidenschaftlicher Kraus-Fan: Jonathan Franzen.

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Wien - Dieses Buch hat viele Anlässe. Einer davon führt ins Berlin der 1980er-Jahre, wo sich der US-Schriftsteller Jonathan Franzen (Freiheit) in seinen frühen Zwanzigern mit einem Fulbright-Stipendium aufgehalten hat. Berlin war in diesen Tagen des Kalten Kriegs noch ein ungemütlicheres Pflaster. Punks, linke Atomkraftgegner in Parkas, schlechte Musik in Bars - nichts für diesen jungen Mann aus gutem Haus. Franzens Ehrgeiz war auf das Schreiben ausgerichtet, auch das Studium spielte kaum eine Rolle. Doch ein Germanistikseminar konnte ihn begeistern: Es befasste sich mit Karl Kraus, dem Satiriker, Polemiker und Querdenker der Wiener Moderne.

Kraus' Sprachgewalt, seine Querschläge gegen die liberale Presse, seine Technologiekritik und wohl nicht zuletzt sein Außenseitertum fanden in Franzen einen begeisterten Abnehmer, ja mehr: Er umarmte ihn für seine Wut als Vaterfigur. Doch es bedurfte der Begegnung mit dem Autor Daniel Kehlmann - und dies ist ein weiterer Anfang -, um diese Leidenschaft neu zu entfachen. Die beiden längeren Essays, Heine und die Folgen und Nestroy und die Nachwelt, 1910 und 1912 in Kraus' Zeitschrift Die Fackel publiziert und nun "Leittexte" in Das Kraus-Projekt, hatte Franzen schon damals ins Englische zu übersetzen begonnen.

Das Kraus-Projekt hat eine Funktion, die in der nun auf Deutsch bei Rowohlt erschienenen Fassung zumindest zum Teil wegfallen muss: Es will einem Autor, der im anglo-amerikanischen Raum allenfalls Experten ein Begriff ist, zu Aufmerksamkeit verhelfen. Ein couragiertes Unterfangen, denn Kraus' anspielungsreiche, mit Zeitkolorit gefärbte und in tückischen Verschränkungen gebaute Sprache lässt sich Lesern heute schwer vermitteln.

Das Kraus-Projekt ist deshalb reich an Kommentaren, ein Werk mit oft seitenlangen Fußnoten, bei denen Franzen Schützenhilfe vom US-Germanisten Paul Reitter in Anspruch nimmt (dessen Buch The Anti-Journalist, das auch auf die Kraus'sche Eigenart des jüdischen Selbsthasses eingeht, einer Übersetzung harrt). Reitters fundierte, das kulturelle Umfeld von Kraus berücksichtigende Anmerkungen gewährleisten eine sehr lohnende Kontextualisierung der Essays des Fackel -Herausgebers; mitunter suchen sie auch den Widerspruch zu Franzens eigenen Ansichten und jenen Kehlmanns, der sich, im Tonfall nonchalanter, überdies einbringt.

Bloß keine sozialen Medien

Aus österreichischer Sicht ist es fast interessanter, sich genauer anzuschauen, wo Franzen Kraus' Aktualität sieht, wo er Analogien zur Gegenwart zieht. "Ich wollte Amerikas Widersprüchlichkeiten so entlarven, wie er die österreichischen entlarvt hat", schreibt der US-Autor, der für sein kritisches Engagement, nicht zuletzt für die Ablehnung sozialer Medien bekannt ist.

Ob man die Polemik von Kraus gegen Heinrich Heine, den er als Ermöglicher eines meinungsinflationären Feuilletons diskreditieren will, tatsächlich auf die Facebook- und Twitter-Kultur übertragen kann, bleibt zwar eher fraglich, doch die Art und Weise, wie sich Franzen zum Bewahrer einer Sprachkultur hochstilisiert, um gegen die noch viele umfassendere Informationsflut sowie Techno-Utopismus zu Felde zu ziehen, das liefert etliche Denkanstöße und verrät viel über Franzen selbst

Es ist das Modell Kraus, der oppositionelle Intellektuelle, der im Kraus-Projekt ins Leben zurückgeholt werden soll. Das gleicht ein wenig dem, was Kraus für Nestroy tat, den man als Spaßmacher verharmloste: "Es gibt keine Nachlebenden mehr, es gibt nur noch Lebende", so Kraus, "die eine große Genugtuung darüber äußern, dass es sie gibt, dass es eine Gegenwart gibt, die sich ihre Nachrichten selbst besorgt und keine Geheimnisse vor der Zukunft hat." (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 12.12.2014)