Foto: C. H. Beck

Gott hat herabgesandt die schönste Rede, ein Buch ..." (Sure 39,23)

Eine Konstante in der vergleichenden Betrachtung französischer und deutschsprachiger Gedankenwelt war über lange Zeit das ungleiche Gewicht des Intellektuellen in der jeweiligen Öffentlichkeit. Da hat sich in jüngster Vergangenheit etwas erheblich verschoben. In Frankreich begann man vom "Schweigen der Intellektuellen" zu sprechen, nun drängt sich der Eindruck ihres Verschwindens auf - wenn man von der gespensterhaft durch alle Aktualitäten gaukelnden Figur eines BHL (Bernard-Henri Lévy) absieht.

Diesseits des Rheins tritt immer mehr ein Denker in den Vordergrund des öffentlichen Diskurses, der zu ästhetischen und religiösen, kulturellen und politischen Themen Stellung bezieht. Ob zum 50-Jahr-Jubiläum des wiedereröffneten Burgtheaters, zu einer Büchnerpreisverleihung oder zum 65. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes im Deutschen Bundestag: Begehrter Festredner ist Navid Kermani, in Deutschland 1967 geborener, in Köln lebender iranischstämmiger Orientalist, Journalist, Schriftsteller.

West-östliche Erkundungen sind seine Überlegungen in jedem Fall, getragen von einer steten Selbstbefragung, einem Abwägen des beträchtlichen kulturellen Gepäcks, das sich aus europäischer Aufklärung und Moderne, aber auch aus tiefen Schichten der islamischen Klassik angesammelt hat. Wenn es zunächst irritiert, dass der Verlag - ohne dies eingangs zu präzisieren - unter diesem Titel einen Sammelband öffentlicher Interventionen der letzten 15 Jahre herausgibt, ist man bald von der Stringenz des Unternehmens überzeugt.

Aus Fremdheitserfahrung und doppelter Zugehörigkeit speist sich ein vibrierendes Streben nach Synthese, kulturelle Vorgeformt-heiten werden in einer Weise reflektiert, dass ein stimmiges Ganzes wohl nie erreicht wird, aber als Desideratum besteht, in Bezug auf die eigene Lebenspraxis stets im Blick bleibt. Schon im eröffnenden Artikel, 1999 auf Englisch als Einleitung einer Koranübersetzung erschienen, lässt sich die zeitliche Tiefenwirkung von Kermanis Überlegungen spüren. Er legt dar, wie islamischen Quellen zufolge der Islam vor allem durch die Sprachgewalt des Korans siegte, "durch die schiere ästhetische Wirkung seiner Rezitation".

So stellt er eine Analogie her zwischen der "Fleischwerdung" Gottes im Christentum und einer koranischen "Wortwerdung"; er verweist dabei auf die Lebendigkeit dieser Tradition bis zu zeitgenössischen Lyrikern wie dem Libanesen Adonis. Leicht lässt sich angesichts solcher Gedankengänge die Schnapsidee einer "Einheitsübersetzung" des Korans ermessen.

Der bedeutende Einfluss klassischer orientalischer Literatur auf Dante und die italienische Renaissance ist heute weitgehend anerkannt, selten jedoch so eindringlich dargestellt wie in Kermanis Vergleich des Buches der Leiden des großen persischen Sufi-Dichters Attar mit der Göttlichen Komödie, der gleichzeitig Bezug nimmt auf das Buch Hiob.

Die drei Buch-Religionen und ihre "Angehörigen" zusammenzudenken ist der roten Faden des Buches. Einen Höhepunkt dieses Gedankengangs bietet die Würdigung des Beitrags der jüdischen Aufklärung zur Hochblüte des deutschen Idealismus. Aber auch die kulturelle Ambiguität des Prager Judentums und Zweigs "europäischer Geist" sind in dieses Kernthema eingewoben.

Besonders delikat, wie Kermani die antiquarische Haltung der Pädagogen in Hesses Dystopie des Glasperlenspiels im Zusammenhang sieht mit der aktuellen islamischen Geisteswelt, die in ihrer Erstarrung allen lebendigen Kontakt zu ihren Traditionen verloren hat. Hier wird seine adornitisch geprägte Denkweise besonders deutlich, die im pessimistischsten Befund noch einen Moment von Hoffnung nicht gänzlich ausschließt. Das verbindet ihn mit Hannah Arendt, wie er im Kapitel "Gewalt des Mitleids" ausführt.

Nicht überraschend, dass Goethe und sein "west-östlicher Diwan" einen zentralen Platz in dieser Zusammenschau einnehmen. Aber auch das "Ach!" der Alkmene und die mystisch-erotischen Atemkontemplationen eines Ibn-Arabi fügen sich im Kapitel über Kleist ineinander. Nur wenige Abschnitte knüpfen sich nicht recht in diesen Teppich: ein Shakespeare-Text, für sich genommen allerdings eine virtuose Exegese zentraler Themen des König Lear; und die Laudatio auf Mosebach ist doch recht eine "Sonntagsrede", in der Vergleiche von gutgebauten Texten des Geehrten mit Cervantes ein wenig kühn wirken. (Thomas Leitner, Album, DER STANDARD, 13./14.12.2014)