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Die damalige EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton 2013 zu Gast bei Premier Milo Djukanović in Podgorica. Djukanović hat der EU jüngst durch die Blume mit einem Abbruch der Verhandlungen gedroht.

Foto: EPA/BORIS PEJOVIC

Es gibt zurzeit nur ein einziges Land, das tatsächlich mit der EU konkrete Beitrittsverhandlungen führt. Und das ist das kleine Montenegro, der Adria-Staat mit den nur 621.000 Einwohnern – das entspricht etwa einer Stadt wie Zagreb oder Stuttgart. Weil es so klein ist und weil es keine ethnischen Konflikte gibt, erfährt das Land mit den schönen Buchten und den tiefen Schluchten kaum Beachtung. Montenegro kann aber auch als Indikator dafür genommen werden, wie unwichtig das Thema Erweiterung derzeit für die EU ist. Auf dem Balkan hallt die Ansage von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, es werde in den kommenden fünf Jahren keine Erweiterung geben, noch immer nach.

Die Halbherzigkeit in Brüssel hat Auswirkungen vor Ort: Es wird immer schwieriger, der Regierung Anreize für Reformtätigkeit zu vermitteln. Man versucht zu motivieren und gleichzeitig zu tadeln. Regierungskritiker wünschen sich allerdings ein konziseres Vorgehen der EU. Denn die Politik von Zuckerbrot und Peitsche funktioniert nur mehr bedingt. Kürzlich spekulierten oppositionelle Medien und einige Vertreter der Zivilgesellschaft deshalb, dass EU-Staaten oder die Kommission selbst die sogenannte "Ausgleichsklausel" für Montenegro aktivieren könnten.

Ausgleichsklausel

Die Ausgleichsklausel, die erstmals für Montenegro bei EU-Verhandlungen eingeführt wurde, sieht vor, dass, wenn Montenegro bei den Kapiteln 23 und 24 (Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit) im Vergleich zum gesamten Verhandlungsprozess ernsthaft hinterherhinkt, weitere Kapitel so lange nicht geöffnet werden, bis diese Verzögerungen aufgeholt werden. "Was die Ausgleichsklausel betrifft, so wird dieser Mechanismus nur im Fall von möglicherweise ernsthaften Verzögerungen bei der Rechtsstaatlichkeit angewandt, was in Montenegro nicht der Fall ist", sagt EU-Chefverhandler Aleksandar Andrija Pejović zum STANDARD. Es scheint nicht so, als ob sich die Regierung Sorgen machen würde, dass die EU durchgreifen könnte. Stattdessen versucht man in Podgorica, Druck gegenüber der EU aufzubauen.

Nachdem die EU-Kommission im letzten Fortschrittsbericht im Oktober den Mangel an Reformen deutlich kritisiert hatte, verwies Regierungschef Milo Djukanović plötzlich auf Island. "Ein Kandidat kann auch die Verhandlungen einstellen", meinte er. "Das Kandidatenland hat das Recht, wie Island es tat, zu sagen: Entschuldigung, aber ich mag diese Gesellschaft nicht mehr." Der Premier forderte die EU stattdessen auf, vor allem im Bereich Infrastruktur mehr für sein Land zu tun. "Ohne, dass man diese Dinge angeht, wird es keine neuen Jobs geben und folglich keine Qualität der Rechtsstaatlichkeit und Entwicklung der Demokratie".

Angst vor Machtverlust

Es ist nicht unbedingt eine konstruktive Allianz. Nicht nur innerhalb der EU ist kaum jemand an Erweiterung interessiert, auch manche politischen Eliten in Südosteuropa fürchten Macht- und Kontrollverlust im Fall, dass mehr Transparenz und Rechtsstaatlichkeit eingeführt wird. Wenn die Regierung eine effektive Korruptionsbekämpfung machen wolle, dann müsste sie gegen die eigenen Leute vorgehen, analysiert Daliborka Uljarević vom Zentrum für zivile Bildung in Podgorica die Situation. "Djukanović kann die EU-Integration aber nicht stoppen, er kann sie höchstens verlangsamen", glaubt sie.

Die EU versucht den Verhandlungsdruck irgendwie aufrechtzuerhalten. Für die derzeitige siebenjährige Finanzperiode, ab 2014, hat man sich neue Mechanismen für die Auszahlung der Vorbeitrittshilfen (IPA II) über 270,5 Mio. Euro ausgedacht. So soll anhand von Indikatoren die Effizienz der Maßnahmen, die gefördert werden, genauer gemessen werden. Die Botschaft ist: Nur wenn Ergebnisse auf dem Tisch liegen, wird gezahlt. Neben Rechtsstaatlichkeit ist Wettbewerbsfähigkeit zentral. Priorität bei alledem hat die regionale Zusammenarbeit, insbesondere im Energiesektor.

Chinesische Investition

Montenegro betont, dass man zunächst Geld für Infrastruktur brauche. Der EU fehle es an einem Investitionsrahmen für die Balkan-Region, sagte Djukanović kürzlich. Was unter europäischen Diplomaten für Unruhe sorgt, ist die Tatsache, dass sich der kleine Staat auch in andere Richtungen umschaut. Die chinesische Exim Bank hat Montenegro etwa einen Kredit über 687 Mio. Euro gewährt. Der Auftrag für den Bau des Autobahnstücks Smokovac-Uvač-Mateševo, der noch Ende dieses Jahres beginnen soll, geht im Gegenzug an die China Communications Construction Company (CCCC) und die China Road and Bridge Corporation (CRBC). Ein Novum in Europa. Die CCCC wurde übrigens von der Weltbank wegen "betrügerischer Praktiken" auf eine schwarze Liste gesetzt. Das chinesische Autobahnstück in Montenegro kostet insgesamt 810 Mio. Euro (etwa 20 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts des Staates) – den Fehlbetrag zum Kredit muss Montenegro selbst aufbringen.

Auch die staatlichen Hilfen, die seit Jahren an das marode Aluminiumwerk KAP gehen, werden von der EU-Kommission nicht gern gesehen. Besonders kritisch ist man aber wegen der "begrenzten" Wirkung der bisherigen Antikorruptionsmaßnahmen. Es fehlten vor allem Verurteilungen, so die Kommission im jüngsten Bericht. EU-Verhandler Pejović sagt, dass die rechtlichen und institutionellen Maßnahmen für die Korruptionsbekämpfung gerade finalisiert würden. Noch bis zum Ende des Jahres sollen das Gesetz zur Prävention von Interessenkonflikten, das Gesetz zu Lobbying, das Gesetz zur Finanzierung politischer Parteien und das Gesetz zu öffentlichen Ausschreibungen beschlossen werden, berichtet er dem STANDARD. Auch die Voraussetzungen für die Schaffung einer Antikorruptionsbehörde seien gegeben, so Pejović. Geplant sei zudem die Schaffung einer Korruptionsstaatsanwaltschaft.

Druck auf die Zivilgesellschaft

Uljarević hat Zweifel, ob das neue Korruptionspräventionsgesetz tatsächlich greifen wird. Sie kritisiert zudem die Langsamkeit des Reformprozesses: "Von den 321 Gesetzen, die dieses Jahr gemacht werden sollten, wurden nur 149 unterfertigt. Das ist nicht einmal die Hälfte", sagt sie. Auch der Aktionsplan für das Kapitel 23 sei nur teilweise erfüllt worden. "Es fehlt an politischem Willen", so Uljarević.

Was Uljarević aber besonders auffällt, sind die "täglichen Angriffe" auf die Zivilgesellschaft und der Druck auf NGOs seit der Rückkehr von Milo Djukanović ins Amt des Premierministers im Dezember 2012. Djukanović war mit Unterbrechungen (in diesen war er auch Präsident) von 1991 bis heute für die Regierungsgeschäfte in Montenegro verantwortlich. Zur Veranschaulichung: 1991 regierte in Österreich Franz Vranitzky. Auch Uljarević bekommt den Druck der Behörden zu spüren. Man versuchte ihre NGO wegen Steuerhinterziehung zu belangen. "Sie konnten allerdings auch nach 20 Monaten keine Unregelmäßigkeiten finden", erzählt sie. Die Medienkampagnen gegen Kritiker des Regimes fallen noch expliziter aus.

Gewalt gegen Journalisten

"Die Methoden sind wirklich dreckig und gefährlich", so Uljarević. "Sie versuchen unser Image zu ruinieren und schreiben sogar unseren Geldgebern." Auch die EU-Delegation selbst und der deutsche Botschafter wurden in einigen Medien attackiert. "Ich weiß nicht, ob das in Brüssel wirklich verstanden wird", sagt Uljarević besorgt. Die EU hat zumindest ihren Kurs gegenüber Montenegro geändert. Das Land wird nicht mehr als Vorbild für die Region dargestellt. Djukanović selbst wird Diplomaten zufolge eher gemieden, während Deutschland den albanischen Premier Edi Rama stärker in den Mittelpunkt rückte.

Die EU bekundete jedenfalls "ernsthafte Sorgen", wenn es um die Meinungsfreiheit geht, insbesondere wegen der Gewalt gegen Journalisten. Die Kommission empfahl der Regierung deshalb, sie solle alle Stellungnahmen vermeiden, die als Einschüchterung verstanden werden könnten. EU-Verhandler Pejović sagt dazu, dass im Aktionsplan für das Kapitel 23 vorgesehen sei, dass die Polizei Maßnahmen ergreife, um Journalisten zu schützen. Er sagt auch, dass jene drei Fälle, bei denen Journalisten angegriffen wurden (einmal wurde sogar eine Autobombe platziert), aufgeklärt wurden. Die Kommission drängt allerdings darauf, dass auch die Auftraggeber der Attacken ausfindig gemacht werden.

Qualität, nicht Tempo der Reformen

Insgesamt hat die EU mit Montenegro zwölf der 35 Verhandlungskapitel geöffnet und zwei einstweilig abgeschlossen. Der EU-Kommission zufolge können zehn weitere Kapitel geöffnet werden. Pejović spricht von elf Kapiteln. Allerdings nehmen EU-Diplomaten an, dass der Prozess nun langsamer werden wird. Pejović will das Tempo beibehalten. Dennoch meint er zum STANDARD: "Es ist wichtig zu betonen, dass die Qualität der Reformen für uns mehr Priorität hat als das Tempo des Prozesses." Man stellt sich also auf einige Jahre ein.

Fortgeschritten ist Montenegro in den Bereichen Wissenschaft und Forschung, Bildung und Kultur, Konsumenten- und Gesundheitsschutz, aber auch bei der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Montenegro unterstützt im Gegensatz zu Serbien die Sanktionen gegen Russland. Allerdings wurde Montenegro im September beim Gipfel keine Einladung zur Nato-Mitgliedschaft übermittelt, was die Regierung ziemlich enttäuschte. Die Nato argumentiert unter anderem damit, dass die montenegrinische Bevölkerung in der Frage geteilt und der Sicherheitssektor nicht ausreichend reformiert sei. Und damit, dass es einen Mangel an Rechtsstaatlichkeit gebe.

Keine Nato-Einladung

Selbst die Nato setzt also gegen Filz und Korruption an. Montenegro ist der einzige Staat an der Adria – mit etwa 200 Kilometern Küste –, der noch nicht dem Bündnis angehört. Die Nachbarländer Kroatien und Albanien sind längst dabei. 59 Prozent der Montenegriner sind jedoch gegen einen Nato-Beitritt, während 67 Prozent eine EU-Mitgliedschaft befürworten. Die Gegnerschaft gegen die Nato hat – so wie in Serbien – auch mit der Intervention 1999 im Kosovo zu tun. Djukanović, der einige Zeit stark von Slobodan Milošević beeinflusst war, ist heute übrigens "ein Herz und eine Seele" mit dessen ehemaligem Informationsminister Aleksandar Vučić, dem aktuellen Regierungschef von Serbien. Belgrad hat noch keine Verhandlungskapitel mit der EU eröffnet. (Adelheid Wölfl aus Podgorica, DER STANDARD, 13./14.12.2014)