Es hat etwas von einer Milchbüchleinrechnung, wie die Schweizer so schön sagen: Hätte man vor zehn Jahren eine Rolex gekauft, wäre diese damals im Vergleich zu heute ein Schnäppchen gewesen. So kostete zum Beispiel eines der begehrtesten Rolex-Modelle, die Oyster Perpetual Cosmograph Daytona in Edelstahl, 2004 bei Juwelier Wagner in Wien 5.945 Euro inkl. Mehrwertsteuer. 2014 belastet eine solche Investition das Geldbörsel um ein einiges mehr: 9.700 Euro muss man für das (fast) gleiche Modell heute hinblättern. Das ist eine Steigerung von rund 63 Prozent. Ähnlich sieht die Sache bei anderen Rolex-Modellen (siehe Grafik) aus – aber auch bei vergleichbaren prestigeträchtigen Uhrenmarken.

77 Prozent in zehn Jahren: Die Rolex "Oyster Perpetual GMT-Master II" in Edelstahl kostete 2004 einen Bruchteil dessen, was man 2014 für sie hinblättern muss.
Infografik: Der Standard/Magdalena Rawicka

Nicht der Wert, der Preis ist gestiegen

Der Schluss liegt also nahe, dass sich der Wert bestimmter Uhren enorm steigern kann, womit wir wieder bei der Milchbüchleinrechnung wären: "Nicht der Wert ist gestiegen, sondern der Preis", stellt Peter Braun, Chefredakteur des deutschen Armbanduhren-Magazins fest. Das sei ein kleiner, aber wichtiger Unterschied. "Natürlich ist es nur ein Stück weit zulässig, die Preise von damals mit heute zu vergleichen, aber ganz kann man sich davon eben nicht freimachen", sagt der Uhrenexperte.

Der Hype treibt

Braun, der seit 25 Jahren im Geschäft ist und die Höhen und Tiefen der Branche kennt, ortet ein Phänomen, das sich nicht nur auf Luxusuhren beschränkt, sondern den gesamten Luxusgütermarkt in Atem hält: "Es ist ein Hype, der schwer nachvollziehbar ist. Das lässt sich quer durch die Uhrenbranche feststellen und ähnelt dem Run auf bestimmte Hermès-Handtaschen: Die hohe Nachfrage ermutigt die Hersteller, ihre Preise nach oben zu schrauben."

Ein gutes Beispiel dafür ist Patek Philippe. Der Genfer Edeluhrenhersteller hat es geschafft, Begehrlichkeiten zu wecken: Wer eine Patek trägt, hat es geschafft. Und hat nicht nur das nötige Kleingeld, sondern auch viel Geduld bewiesen. Denn für eine Nautilus, eine Ikone des Hauses, muss man lange Wartezeiten in Kauf nehmen.

Wechselkurs als Argument

Aber wie kommen solch enorme Preissteigerungen zustande? Freilich beeinflusst die Inflation die Preise von Luxusgütern ebenso wie die von alltäglichen Konsumgütern. Auch ist der Weltmarkt für Edelmetalle und Edelsteine volatil und treibt die Preise genauso wie gestiegene Herstellungskosten, die Boutique-Mieten in Toplagen etc. Andererseits: Ein niedriger Goldkurs wird nicht zwangsläufig an den Kunden weitergegeben. Gerne werden auch Wechselkursschwankungen als Argument herangezogen, um halbjährliche Preissteigerungen zu rechtfertigen.

95 Prozent gehen in den Export

Dieses Argument wurde aber spätestens seit September 2011 entwertet. Damals entschloss sich die Schweizer Notenbank zu einem radikalen Schritt: Sie hat den Franken de facto an den Euro gebunden. Seither hat sich der Wechselkurs nicht mehr unter 1,20 Euro bewegt. Diese Maßnahme hat vor allem die exportierende Industrie gestützt – und damit die Uhrenindustrie. Deren Produkte gehen zu 95 Prozent in den Export. Im vergangenen Jahr erzielte man den Rekordwert von 20,6 Milliarden Franken (rund 17,1 Milliarden Euro). Die wichtigsten Märkte: China inklusive Hongkong.

Aussicht auf gute Geschäfte

"Damit hat auch die Preistreiberei in den letzten fünf Jahren zu tun", sagt Peter Braun. Denn in China habe sich für die Uhrenindustrie ein Riesenmarkt aufgetan mit unkritischen, aber relativ wohlhabenden Konsumenten mit Nachholbedarf. "Der Käufer vor Ort hat die Preise mangels Vergleichswerten gar nicht erst infrage gestellt." Die Aussicht auf gute Geschäfte hat so manche Marke dazu verleitet, ihr Wohl und Weh allein auf die Aufnahmekapazitäten des chinesischen Marktes abzustimmen.

Luxusuhren wie die Rolex "Oyster Perpetual GMT-Master II" in Edelstahl (siehe Grafik oben) sind teuer - und hoch begehrt.
Foto: Rolex

Letztendlich habe man übertrieben, sagt Braun: "Die Lager waren in den Boomjahren schnell gefüllt, aber jetzt stagniert das Geschäft." Mit Auswirkungen bis in die Schweiz: Als Reaktion auf die schwächelnde Konjunktur in China setzte etwa Cartier 230 Beschäftigte seiner Schweizer Uhrenfabrik auf Kurzarbeit. Die China-Flaute gepaart mit härteren Antikorruptionsbestimmungen hat auch anderen Uhrenmarken im oberen Preissegment zugesetzt. So musste beispielsweise Audemars Piguet schon vergangenes Jahr Boutiquen schließen.

Neuausrichtung im Gange

Auch TAG Heuer, Teil des LVMH-Konzerns, hat Personal entlassen. Dort liegen die Dinge allerdings anders, wie Jean-Claude Biver, Uhrenchef des Luxuskonzerns, anlässlich seines Wien-Besuchs verdeutlichte: "Wir werden die Marke neu positionieren." Statt in immer höhere Preissegmente vorzustoßen und die (teure) Produktion eigener Uhrwerke zu forcieren, wolle er TAG Heuer in ihrem angestammten Segment von 1.500 bis 4.500 Franken (also zwischen 1.200 und 3.700 Euro) stärken. Die Entlassungen beträfen daher in erster Linie die Entwicklungsabteilung.

Auf zur Normalisierung

Peter Braun hält diese Entscheidung für wegweisend: "Leute, die sich seit 20 Jahren für Uhren interessieren und auch immer welche gekauft haben, fühlten sich bei den herrschenden Preisen regelrecht auf den Arm genommen." Die Branche habe das Einstiegssegment, mit dem Blick auf hohe Gewinne durch das Anbieten von – weitaus teurerer – Manufakturware und den Hype darum, sträflich vernachlässigt.

Der durchschnittliche Uhrenkäufer konnte nicht mehr mithalten. Braun ortet aber eine Normalisierung des Marktes, auch vor dem Hintergrund, dass es Marken wie Nomos oder Frédérique Constant geschafft haben, durch kluge Modell- und Fertigungspolitik Uhren mit hauseigenen Werken zu vernünftigen Preisen anzubieten.

Mehr Millionäre, als man ahnt

Muss man sich Sorgen um die Branche machen? Nein. Wo China auslässt, springt der als gesättigt geltende japanische Markt ein. Dorthin wurden in den ersten acht Monaten des laufenden Jahres 23,5 Prozent mehr Uhren exportiert. Und die ersten Previews anlässlich des kommenden Genfer Uhrensalons lassen darauf schließen, dass es weitaus mehr Millionäre auf der Welt geben muss, als man vielleicht ahnt. In der Haute Horlogerie scheint also alles auf Schiene. Auch wenn man 2015 kleinere Brötchen backen wird. (Markus Böhm, Rondo, DER STANDARD, 12.12.2014)