Massenarbeitslosigkeit und die Grenzen herkömmlicher Wirtschaftspolitik im kapitalistischen System werden von reaktionären Kräften dazu benützt, die Krise der kapitalistischen Wirtschaft als Krise des Staates darzustellen", so die Analyse des SPÖ-Parteiprogramms von 1978, des letzten roten Programms, das die Bezeichnung sozialdemokratisch auch verdient. Bruno Kreisky ergänzte in seiner Rede auf dem Parteitag von 1978: "Politik kann sich nicht allein auf die Verteidigung bestehender politischer Rechte und sozialer Errungenschaften beschränken, sondern muss eine grundlegende Umgestaltung der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung in eine gerechtere und weniger krisenanfällige zum Ziele haben."

Solche Töne hört man aus der Sozialdemokratie des Jahres 2015 selten. Heute klingt das vielmehr nach einer Krisenanalyse der griechischen Linkspartei Syriza oder des spanischen Linksbündnisses Podemos.

Griechenland hat ihn erlebt, den von Kreisky befürchteten Abbau der Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates und politischer sowie sozialer Rechte. Dank des radikalen Sparkurses kam es zu einem Rückgang des BIP um 25 Prozent sowie zur Entstehung von Massenelend innerhalb weniger Jahre. Die Rettungspakete kamen nie bei der Bevölkerung an. Gemäß Berechnungen von Attac flossen nur 22,5 Prozent des zwischen Mai 2010 und Dezember 2011 ausgezahlten Rettungspakets in den griechischen Staatshaushalt. 28 Prozent der griechischen Hilfsgelder flossen in die Rekapitalisierung griechischer Banken; beinahe 50 Prozent gingen an Gläubiger des Staates, die Hälfte davon in ausländische Rüstungsverträge für ein unnötig großes Militär. Das sind die Resultate der "Rettung" Griechenlands durch die Troika aus EU, IWF und EZB.

Syriza spricht über Herrschaftsverhältnisse: Wer profitiert, und wie gerecht ist das? Eine Frage, die von der SPÖ besonders im Parteiprogramm 1978 gestellt wurde. Syriza fragt: Wer hat etwas von der Rettung griechischer Banken, wenn durchschnittliche Griechen 40 Prozent ihres Einkommens eingebüßt haben? Wer sind die Gläubiger der Hypo, könnte man in Österreich fragen. Das Ablassen von derart grundsätzlichen sozialdemokratischen Fragestellungen und das Gewährenlassen von marktliberaler Politik haben in Griechenland die Bevölkerung verarmen lassen und eine kleptokratische Elite begünstigt, die in ganz Europa zu Hause ist.

Dass das Aufwerfen sozialer Fragen jetzt von links der Sozialdemokratie kommt, ist vor allem der Abkehr vieler europäischer sozialdemokratischer Parteien von ihren Grundsätzen und Programmen geschuldet. Der linke Platz, der dabei frei wurde, ist so unübersehbar, dass sogar in Boulevardblättern die Hoffnung zu Papier gebracht wird, dass ein Sieg von Syriza die europäische Sozialdemokratie aus ihrem Dornröschenschlaf erwecken möge. Wenn das nicht geschieht, droht vielerorts wohl das Schicksal der sozialdemokratischen Pasok, die in Griechenland bis vor kurzem noch über 40 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte. Heute kämpft Pasok um den Wiedereinzug ins Parlament.

Syriza bezeichnet sich selbst als radikale Linke, was viele mediale Kommentatoren maliziös betonen, um die Gruppierung mit Extremismus in eine Ecke zu stellen. Tatsächlich zielt ihr Programm oftmals auf die Verwirklichung dessen, was die österreichische Arbeiterbewegung am Höhepunkt ihres Einflusses Ende der 1970er-Jahre bereits erreicht hatte: ein flächendeckendes Kollektivvertragssystem, ein allgemeines Sozialversicherungsgesetz, eine Arbeitslosenunterstützung von 80 Prozent des Letzteinkommens sowie freien Zugang zur medizinischen Versorgung. Viele Forderungen decken sich auch mit der aktuellen SPÖ: Besteuerung von Finanztransaktionen, Verbot von spekulativen Finanzprodukten, Besteuerung von Vermögen über einer Million Euro bei Senkung der Steuerlast für die Mittelklasse sowie Schaffung leistbaren Wohnraums. Dass Syriza neben dieser lupenrein sozialdemokratischen Agenda auch noch das Pathos einer demokratisch-sozialistischen Zukunft vor Augen hat, unterscheidet sie nicht von der SPÖ von 1978, die eine "klassenlose Gesellschaft" forderte, in der "Herrschaftsverhältnisse und Privilegien überwunden sind". Die Doppelstrategie einer reformistischen Agenda für die Gegenwart und einer utopischen Vorstellung für die Zukunft steht in bester Tradition der SPÖ. Wer Syriza wählt, wählt quasi Kreisky.

"Wir müssen doch auch darüber reden, wie wir stark genug werden, um in diesem Europa die klare Mehrheit im Europäischen Rat von Konservativen und Liberalen zurückzudrängen und Sozialdemokraten und sozial Gesinnte, politisch Verantwortliche in die Mehrheit bringen." Als Werner Faymann das am Bundesparteitag gesagt hat, gab es Beifall. Zuvor hat er seine Sorge ausgesprochen, einmal der letzte Sozialdemokrat im Europäischen Rat zu sein. Kommende Woche wird sich zeigen, ob er in Syriza einen natürlichen Verbündeten erkennt oder ob die SPÖ-Spitze aus Gefallenszwängen gegenüber zweifelhaften Akteuren zaghaft bleibt. Die Pasok ist an diesem Gefallenszwang zugrunde gegangen. (Eva Maltschnig, DER STANDARD, 24.1.2015)