Die Grenze zwischen Österreich-Ungarn und dem russischen Zarenreich um 1910 nahe Brody, der Geburtsstadt von Joseph Roth.

Foto: : Regionalmuseum Brody

Österreichischer Imperialismus ist schuld am Ukraine-Konflikt. Denn hätte sich Wien nicht an der ersten Teilung Polens 1772 beteiligt, dann gäbe es jenen Mythos nicht, der zweieinhalb Jahrhunderte später viele der Demonstranten auf dem Kiewer Maidan beflügelte. Und dann hätte der russische Imperialismus des Jahres 2014 keinen Grund zum militärischen Eingreifen gefunden.

Eine gewagte, zugegebenermaßen ironisch dramatisierte Kausalkette. Und dennoch schlüssig. "Galizien ist noch immer ein zentrales Identitätsmerkmal beiderseits der Grenzen zwischen Polen und der Ukraine", sagt Jacek Purchla, Direktor des Internationalen Kulturzentrums Krakau (ICC). Er meint natürlich den Mythos Galizien. Unter diesem Titel zeigt das Wien-Museum ab nächster Woche die Ausstellung, die davor in der südpolnischen Metropole während der fünfmonatigen Laufzeit auf großes Interesse traf.

"Eine erfolgreiche österreichische Erfindung", titelte der britische Economist zum Mythos Galizien. Und diese Erfindung sei, bei all ihren Unzulänglichkeiten, relevant und lebendig, lautete der Schlusssatz der Ausstellungskritik. Kompliziert sei die Sache mit Galizien, meint Purchla. Doch enthalte sie eine klare Botschaft: "Zurück zu den Werten, die uns zu Mitteleuropäern gemacht haben." Und damit spielt er auf die Motive vieler Maidan-Aktivisten an.

Kompliziert - eine glatte Untertreibung. Seit seiner Erfindung durch die Habsburger stand und steht Galizien für Widersprüche, Doppeldeutigkeit, Vielschichtigkeit. Joseph Roth, in der galizisch-russischen Grenzstadt Brody geboren und selbst ein Hauptschöpfer des galizischen Mythos, traf es mit dem "Zwischenreich" am besten: eine Welt zwischen Rückständigkeit und Fortschritt, eine Welt von schier unüberschaubarer kultureller Vielfalt, eine Welt, in der das Judentum eine Blüte erlebte ("Mutter Israels") und vernichtet wurde (Auschwitz liegt in Galizien). Heute sind es auch die Nachkommen der zwei Millionen galizischen USA-Auswanderer im 19. und frühen 20. Jahrhundert, die den Mythos weitertragen.

"Österreichisches Texas"

Das "Königreich Galizien und Lodomerien" war das größte Kronland der österreichischen Reichshälfte, so groß wie das heutige Österreich. Vor dem Ersten Weltkrieg war rund ein Drittel der zehn Millionen Einwohner Juden. Immerhin 20 Prozent der Steuereinnahmen Cisleithaniens kamen aus Galizien. Um 1900 wurde das Kronland mit seinen großen Ölvorkommen zum "österreichischen Texas". Das kosmopolitische Lemberg, heute die westukrainische Metropole Lviv, war nach Wien, Budapest und Prag viertgrößte Stadt Österreich-Ungarns.

Aber wie man damals in den westlichen Ländern der Monarchie über dieses "Halb-Asien" die Nase rümpfte und für Offiziere die Versetzung in eine galizische Garnison die persönliche Katastrophe bedeutete, konstatiert Wolfgang Kos, Direktor des Wien-Museums, im heutigen Österreich "komplettes Unwissen" über Galizien - womit er vor allem Geschichte und Geografie meint. Mit rund 600 Ausstellungsstücken aus neunzig verschiedenen Sammlungen in Polen, Österreich und der Ukraine hält die Schau dagegen.

Unser Galizien-Bild sei entstanden, als es das Land Galizien nicht mehr gab, meint Kos. Es ist dieses "Galizien nach Galizien", in dem sich all die Widersprüche, die unterschiedlichen Perspektiven und Narrative zu einem Mythos verdichtet haben, der bis heute wirkungsmächtig ist.

Gouvernante Franz Joseph

Das Plakat der Krakauer Ausstellung zeigte, im Stil einer historischen Karikatur, Kaiser Franz Joseph I. als Gouvernante mit Kinderwagen - augenzwinkernde Metapher für die habsburgische Schöpfung Galizien. Zentraler Blickfang der Schau ist eine rote Wand mit unzähligen verschiedenen Abbildungen des Monarchen. Warum ist Franz Joseph im polnischen Teil des ehemaligen Galizien heute noch immer populär? Im kommunistischen Polen sei der Kaiser ein Symbol Mitteleuropas und gemeinsamer Werte gewesen, meint Jacek Purchla. Und das, obwohl unter seiner Regentschaft polnische Unabhängigkeitsaktivisten verfolgt und eingesperrt wurden - wieder so ein galizisches Paradoxon.

Das Plakat der Wiener Ausstellung zeigt die österreichisch-russische Grenze bei Brody um 1910. Die Grenzbalken sind auf beiden Seiten geöffnet. Hundert Jahre später kann dies auch als Hoffnung verstanden werden, dass der Mythos Galizien seine Wirkung noch weiter ausdehne. (Josef Kirchengast, DER STANDARD, 21.3.2015)