Für viele Armenier sei die Anerkennung des Genozids mittlerweile zweitrangig. Sie erhoffen sich auch abseits davon bessere wirtschaftliche Beziehungen zur Türkei, sagt Armenologin Jasmine Dum-Tragut.

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Trauernde am Genozid-Denkmal in Eriwan.

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Jasmine Dum-Tragut ist die einzige Armenologin in Österreich und seit mehr als 20 Jahren in ihrem Fach tätig. Im Interview mit derStandard.at hebt sie hervor, dass die Menschheit kaum etwas aus ihrer Geschichte gelernt habe, denn die durch die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) bedrohten Völker würden heute genauso entwurzelt wie das armenische Volk in den Jahren 1915 bis 1918.

STANDARD: Rechnen Sie mit einer Öffnung der Türkei im Hinblick auf die Anerkennung des Genozids?

Dum-Tragut: Es ist nicht eindeutig, in welche Richtung es tatsächlich geht. Zum einen solidarisierten sich nach dem Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink in Istanbul (2007, Anm.) sehr viele Türken mit den trauernden Armeniern. Zum anderen gibt es aber auch wieder Fälle, in denen etwa armenische Vereine verboten werden. Ein Hindernis bei der Öffnung sehe ich auch darin, dass die Türkei selbst in konservativ und laizistisch geprägte Lager gespalten ist. Grundsätzlich habe ich das Gefühl, dass besonders die gebildete Schicht beziehungsweise die Jugend sich informieren möchte, das aber von der Regierung unterdrückt wird.

STANDARD: Wird die EU-Resolution die Anerkennung des Völkermords durch weitere Staaten vorantreiben?

Dum-Tragut: In den meisten Staaten, in denen der Genozid schon offiziell anerkannt wurde, gibt es eine starke armenische Lobby, etwa in Frankreich und einigen skandinavischen Ländern. Allerdings ist es meiner Meinung nach sinnvoller, wenn ihn internationale Organisationen wie die Uno oder Großmächte wie die EU anerkennen. Das kann mehr bewirken als die Anerkennung durch einzelne Staaten. Die Position der Türkei wird das allerdings nicht ändern.

STANDARD: Wird der Genozid an den Armeniern abseits der Türkei tatsächlich noch geleugnet?

Dum-Tragut: Es betrifft einen Großteil der Menschen hier nicht, weil es geografisch zu weit weg ist und historisch zu weit zurückliegt. Damit man über den Genozid sprechen kann, ist das Wissen darüber zentral. Würden Sie eine Umfrage zum Völkermord in Österreich machen, wären Sie erstaunt darüber, wie wenig die Menschen hier wissen.

STANDARD: Wie ist man Ihnen als Armenologin bei Aufenthalten in der Türkei begegnet?

Dum-Tragut: Bei einer Tagung an der Universität Ankara im vergangenen Jahr habe ich keine negativen Stimmen zum Türkei-Armenien-Konflikt wahrgenommen. Der Grundtenor bei Lehrenden und Studierenden war, dass man den Genozid belegen sollte. Viele sagten, dass sie das Verhalten der türkischen Regierung nicht verstehen. Studierende wandten sich an mich und haben nach möglichen Forschungsprojekten gefragt.

STANDARD: Gab es auch negative Erfahrungen?

Dum-Tragut: Ja, leider auch. Ich wurde zu einer Tagung im Osten der Türkei eingeladen. Dort gibt es ein Zentrum für Minderheiten. Ich wurde gebeten, weitere über Minderheiten in der Region Forschende vorzuschlagen. Als ich die Liste erhielt, stand allerdings keiner der von mir genannten Forschenden da. Die Antwort darauf war, dass sie zwar Armenologen, aber keine Armenier einladen können. Die Konsequenz für mich war, dass ich nicht hingefahren bin.

STANDARD: In welcher Form erwarten sich die Armenier ein Zugeständnis von der Türkei?

Dum-Tragut: Das unterscheidet sich je nachdem, ob es auf politischer, gesellschaftlicher Ebene oder innerhalb kleinerer Gruppen in der Gesellschaft betrachtet wird. Außerdem unterscheiden sich die Sichtweisen zwischen Republik-Armeniern und solchen aus der Diaspora. Es gibt Gruppen, die sich eine aufrichtige Entschuldigung erwarten, andere wiederum wollen entsprechende Gebietsrückgaben, Reparationszahlungen oder Ähnliches.

Durch meinen jahrelangen regen Austausch mit der armenischen Bevölkerung kann ich sagen, dass es für knapp mehr als die Hälfte Vorrang hat, das gegenwärtige Verhältnis zur Türkei zu verbessern: die Grenzen wieder zu öffnen, wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen mit ihr aufzubauen. Die offizielle Anerkennung des Genozids und die dazugehörigen Aspekte sind im Vergleich zur gegenwärtigen Situation zweitrangig.

STANDARD: Welche Schritte müsste die Türkei einleiten, damit es in Zukunft Richtung Versöhnung gehen kann?

Dum-Tragut: Das ist sehr schwierig. Ich bin seit 1988 als Armenologin beschäftigt, was doch schon eine ganze Strecke ist, und habe nicht wirklich den Eindruck, dass bestimmte "Schritte" eingeleitet werden können. Besonders mit der Regierung Erdogan scheint mir das noch schwieriger.

STANDARD: Sollte die Türkei den Völkermord tatsächlich anerkennen, wäre dann eine Versöhnung in Sicht?

Dum-Tragut: Auch dann wäre eine Versöhnung schwierig. Es würde zahlreiche Gerichtsverhandlungen nach sich ziehen, die Ermittlungen wären nicht leicht, weil es die Verantwortlichen nicht mehr gibt. Sollte das wirklich passieren – was ich bezweifle –, stellt sich die Frage, wie es dann weitergeht: Reparationszahlungen, Gebietsforderungen oder Rückgabe von Kulturschätzen?

Ich denke, dass der Terminus "Genozid" problematisch ist. Meiner Meinung nach sollte zwischen Anerkennung, Verleugnung und dem Terminus selbst unterschieden werden. Ich glaube, dass sich die Türkei besonders an dem Terminus stößt: Dieses "gezielte Vorgehen" möchten sie nicht einräumen. Ich glaube nicht, dass die Türkei das Ganze komplett verleugnet. Es wird eben "anders" beziehungsweise schwammig dargestellt, und das ist die Krux an der Sache.

STANDARD: Welche Bedeutung hat das 100-Jahr-Gedenken für das armenische Volk?

Dum-Tragut: Dass sich jetzt alle plötzlich äußern, besonders Prominente, die zuvor nie eine Position in dieser Richtung bezogen haben, ist für mich nicht mehr ganz ernst zu nehmen. Natürlich handelt es sich um eine aktuelle Angelegenheit, deren Wichtigkeit ich nicht mindern möchte, aber es müsste nicht so inszeniert werden. Vor allem kämpfen wir gegenwärtig mit einem ähnlichen Problem, dem wir uns auch widmen sollten.

STANDARD: Welches Problem?

Dum-Tragut: Dass jetzt Ähnliches durch die Terrormiliz "Islamischer Staat" passiert; vielleicht nicht in diesem Ausmaß, aber an Schrecklichkeit auch nicht geringer. Verschiedene Volksgruppen wie Syrer, Assyrer und Jesiden, die schon einmal entwurzelt wurden, sind wieder betroffen. Das sind die Siedlungsgebiete, in denen sich die Völker nach dem Genozid "erholt" haben. Das ist etwas, wo ich mir denke: Gedenken ist wichtig, aber schaut her, es passiert ja schon wieder. Genau diese Gruppen werden wieder entwurzelt und haben dort nicht einmal ein Jahrhundert in Ruhe gelebt.

Es wäre wichtig, aus der Geschichte zu lernen. Der Vorwurf, dass beim Genozid an den Armeniern alle bloß zugeschaut haben, könnte sich in diesem Fall auch wieder bestätigen. (Tugba Ayaz, derStandard.at, 23.4.2015)