Mit "blues blood bruise" – die Melancholie der blauen Flecken? – hat Enwezor den Zentralpavillon in den Giardini in Venedig überschreiben lassen: Kunst reflektiert die schmerzvollen Marken der Historie.

Foto: Anna Blau

Venedig – Der Sturm im Paradies reißt den Engel der Geschichte in die Zukunft. Vergebens sein Versuch, in die Vergangenheit zu blicken, wo katastrophale Ereignisse Trümmer auf Trümmer häufen. Dort das Zerschlagene zu richten erscheint unmöglich, denn die Gewalt des Fortschritts ist zu groß. Es ist das längst zum Kult gewordene Bild "Angelus Novus" von Paul Klee, das der Philosoph Walter Benjamin für dieses Denkbild der Geschichte heranzieht. Und es ist Benjamin, den Okwui Enwezor, Kurator der 56. Kunstbiennale in Venedig, seiner Idee der Ausstellung "All the World's Futures" mit 136 Künstlern aus 53 Ländern voranstellt.

Rückstände der Geschichte

Benjamin zeige, wozu ein Kunstwerk fähig sei, dass man viel weiter hinter die nüchterne Erscheinung der Dinge schauen kann, so Enwezor. Die Kunst als Filter oder als jener Engel, der nicht dem Sog der Geschwindigkeit anheimfällt, um so zurückblicken zu können auf das, was Enwezor "Rückstände der Geschichte" bezeichnet. Historie soll also in ihrer Analyse mit der Gegenwart vereint werden; mit einer Zeit, die ebenso wie das Jahr 1895, dem Jahr der ersten und noch nicht durch den Wettbewerb der Länderpavillons dominierten Biennale Venedig, von großen sozialen und politischen Veränderungen geprägt ist: Von einer globalen Unordnung spricht er, etwa von gewaltvollen Unruhen, von Gespenstern der ökonomischen Krise, von sezessionistischer Politik und den humanitären Katastrophen der Migrationsströme.

Ein eher universeller Blick, inspiriert durch Enwezors sorgenvolle Frage zum Zustand der Welt: "Wir hatten zuletzt zwei schreckliche Jahre", war in Interviews zu seinem gedanklichen Ausgangspunkt zu lesen. Trotzdem glaubt er nicht an die universelle Antwort, an die hegelsche Didaktik einer alles zusammenfassenden Synthese, so Enwezor, der aktuelle Direktor des Münchner Hauses der Kunst, von dem sich einige für die Großausstellung in Venedig einen stärkeren Fokus auf das Thema Neokolonialismus erwartet hätten - oder zumindest besonders viele Teilnehmer vom afrikanischen Kontinent: Artnews.com recherchierte; tatsächlich sind ganze 14,3 Prozent der Teilnehmer afrikanischstämmig, das entspricht grob dem Anteil an der Weltbevölkerung.

Die Schau wird Show

Kunst und Historie sind also die Werkzeuge, die Enwezor dem Heute angedeihen lässt, wesentlich ist aber, dass er der Macht der Bilder jene des Wortes – ob geschrieben oder gesprochen – entgegenstellt. Unter dem Stichwort "Liveness: On epic duration" integriert er das Performative und Einmalige, will auch körperliche und geistige Erfahrungen ermöglichen. Man könnte auch sagen: Die Schau wird Show. Ein Teilereignis des ohnehin nicht gerade unaufgeregten Events namens Biennale di Venezia ist die Lesung von Karl Marx' "Das Kapital", dessen letzter und dritter Band 1894, ergo kurz vor der Premiere des Großereignisses, erschienen ist.

Marx etwa glaubte daran, dass man einen Zweck aus der Geschichte herauslesen und in der Gegenwart dementsprechend handeln kann: Ob Enwezor diese Zuversicht teilt? Nach allem, was bisher zu vernehmen war, ist dem Titel "All the World's Futures" eher ein großes Fragezeichen zu verpassen. Kann es in Europa, Asien und Afrika verschiedene Perspektiven geben?

Das Marx-Oratorium

Düster ist gleich der visuelle Empfang am Zentralpavillon: Schwarze Tücher, getränkt mit tiefschwarzer Ölfarbe und Schmutz, hängen wie Fetzen, wie ein heruntergerissener Vorhang, vom Gebälk. Die Nähte im Textil dieser metaphorischen Installation Oscar Murillos sind wie Narben alter Wunden. Im Inneren führt eine alte Feuerwehrleiter in die Kuppel, aber statt Apotheose erwartet den Besucher ein schwarzes Nichts: "The End" heißt Fabio Mauris raumbestimmende Arbeit.

Und dann folgt die von Regisseur Isaac Julien gestaltete Arena für das Marx-Oratorium: die Lesung von "Das Kapital". Manchen Kritikern stößt es auf, dass da von einem "heiligen Buch" die Rede war. Selbst als durchaus kontroversielle Folie, anhand derer Widersprüche und Extreme des Kapitals diskutiert werden könnten, sei es zu heikel. Marx' Text verweise auf die Verbrechen des realen Sozialismus oder sei viel zu mathematisch – dabei sind nur zwei bis drei Kapitel den Formeln zuzurechnen. In Wirklichkeit ist der Text oft sehr literarisch, was Marx' intensivem Studium von Goethe und Shakespeare zu verdanken ist. Beispiel: "Dieser Widerspruch zwischen der quantitativen Schranke und der qualitativen Schrankenlosigkeit des Geldes treibt den Schatzbildner stets zurück zur Sisyphosarbeit der Akkumulation. Es geht ihm wie dem Welteroberer, der mit jedem neuen Land nur eine neue Grenze erobert."

Fix ist: "Das Kapital" wird nicht nur auf der Biennale gelesen, sogar digitale Lesekreise – etwa volkslesen.tv – übten sich in den vergangenen Jahren in Marx-Exegese. Rimini Protokoll brachte den ersten Band 2006 motivisch auf die Bühne und erhielt dafür den Mülheimer Dramatikerpreis. Die haben übrigens ausgerechnet, wie lange es dauern würde, allein Band Eins vorzulesen und pro Seite eine Stunde Nachdenkzeit aufzubringen: ein komplettes Arbeitsjahr. "Es gibt keine Landstraße für die Wissenschaft, und nur diejenigen haben Aussicht, ihre lichten Höhen zu erreichen, die die Mühe nicht scheuen, ihre steilen Pfade zu erklimmen", sagte Marx. Man übe sich daher in Geduld. (Anne Katrin Feßler, 6.5.2015)