Als Günter Grass Die Blechtrommel schrieb, war er erst einunddreißig - eine bemerkenswerte Leistung, die ihm (wenn überhaupt) so schnell keiner nachmachen wird. Es gibt keine Schriftsteller mehr - jedenfalls keinen, der Wahlkampfreden für Willy Brandt schreiben könnte und einen Roman, der 1647 gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges spielt, und außerdem einen Roman, in dem nicht nur ein sprechender Fisch wegen Chauvinismus vor Gericht steht, sondern auch die Geschichte der Ursprünge der Kartoffel in Preußen dargelegt wird. Nicht zu vergessen den Schüler, den Günter in örtlich betäubt einen Hund in Brand setzen lässt, um das Gewissen der Berliner wachzurütteln.

Diesem hundeverbrennenden Schüler nicht unähnlich, gab es im wirklichen Leben einen radikalen Studentenführer namens Rudi Dutschke. In Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus nannte Grass ihn einen "Revolutionär aus dem deutschen Bilderbuch". Weiter schrieb Günter über Rudi Dutschke: "Wie ihn das Wünschen hinriss. Wie ihm die Ideale sechsspännig durchgingen. Wie seine Visionen zu Taschenbüchern verkamen." Das machte Günter traurig.

Ja, Günter sah meine Zeitgenossen ein wenig kritisch. Er schrieb: "Selten hat eine Generation sich so schnell erschöpft. Die gehen entweder kaputt oder gehen kein Risiko mehr ein." Na ja, zugegeben - wir sind tatsächlich eine Generation, der es an Durchhaltevermögen mangelt.

Verzeihen Sie mir bitte, wenn ich Sie daran erinnere, dass Günter manchmal auch Sie ein wenig kritisierte. "Denn bei uns läuft alles auf Zuwachs raus", schrieb er. "Wir bescheiden uns nicht. Uns ist genug nie genug. Wir wollten schon immer darüber hinaus. ... Und träumen noch produktiv."

Ich entging seiner Kritik nicht. O ja, Günter hielt durchaus Kritik für mich bereit. Eines Abends in New York - nachdem wir gegessen hatten und uns gerade voneinander verabschiedeten -, kam er mir ein wenig besorgt vor. Das war bei ihm nichts Ungewöhnliches, doch er überraschte mich mit den Worten, er mache sich um mich Sorgen. Und er fuhr fort: "Du wirkst nicht mehr so zornig wie früher."

Ausreichend zornig sein

Das war in den Achtzigerjahren. Natürlich habe ich mich seitdem bemüht, zornig zu sein. Ich versuche!

Es gibt keine Schriftsteller mehr - keine wie ihn.

1920 schrieb Joseph Conrad eine neue Einführung für Der Geheimagent. Dort heißt es: "Ich neigte schon immer dazu, meine Handlung zu rechtfertigen. Nicht zu verteidigen. Zu rechtfertigen. Nicht zu betonen, dass ich recht hatte, sondern schlicht zu erklären, dass meinen Impulsen keine perverse Absicht, keine heimliche Verachtung der natürlichen Empfindsamkeiten der Menschheit zugrunde lagen." Ich kann mir vorstellen, wie Günter das sagt.

Als er Beim Häuten der Zwiebel schrieb, bestand er nicht darauf, recht zu haben; er erklärte sich. Denn diese Geschichte war nicht nur seine Geschichte, er war zudem Schriftsteller! Hatten die Journalisten wirklich erwartet, dass Günter ihnen diese Geschichte Jahre zuvor erzählen würde, damit sie sie aufschreiben konnten? Jedem Leser von Günter Grass war klar, dass er immer schon Beim Häuten der Zwiebel geschrieben hat. In seinen Worten: "Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender Scham verschweigen." Für seine Leser ist diese "nachwachsende Scham" von Anfang an da. Es findet sich in Die Blechtrommel, findet sich in Katz und Maus - das Gefühl der Schande existiert schon lange vor Beim Häuten der Zwiebel.

Natürlich machte er sich Feinde. "Wir alle tragen Wunden", schrieb Thomas Mann, "und Lob ist, wenn nicht heilender, so doch lindernder Balsam für sie. Dennoch steht ... unsere Empfänglichkeit dafür in keinem Verhältnis zu unserer Verletzbarkeit durch schnöde Herabsetzung, hämische Schmähung. Wie dumm diese sei und wie offenkundig bestimmt sogar durch irgendeine private Ranküne: sie beschäftigt, als Ausdruck der Feindschaft, weit tiefer und nachhaltiger als das Gegenteil - sehr törichterweise, da Feinde ja das notwendige und geradezu beweisende Zubehör jedes stärkeren Lebens sind."

In Beim Häuten der Zwiebel nannte sich Günter "das gebrannte und deshalb unheilbar auf Widerspruch gestimmte Kriegskind".

In seinem letzten Brief an mich, den ich nicht mehr beantworten konnte, finden sich im letzten Absatz Anklänge an seine Autobiografie: "Die Welt ist wieder einmal aus den Fugen, und mir, dem kriegsgebrannten Kind, kommen böse Erinnerungen."

Der Hauptfigur eines meiner Romane, Owen Meany, gab ich Oskar Matzeraths Initialen. Mehr als zwanzig Jahre zuvor, 1962/63, studierte ich in Wien und hatte Die Blechtrommel schon auf Englisch gelesen, schleppte aber immer eine deutsche Taschenbuchausgabe mit mir herum. Auf diese Weise konnte man Mädchen kennenlernen. Leider sah mich meine Vermieterin das Buch herumtragen, und sie musterte mich kritisch; ich hatte nicht vor, meine Vermieterin näher kennenzulernen. "Was ist? Hat es Ihnen nicht gefallen?", fragte ich sie und hielt das Taschenbuch hoch.

Es fällt mir schwer, ihre Worte zu wiederholen - damit meine ich ihren speziellen Zungenschlag. Auf Wienerisch. Ich werde es versuchen. Meine Vermieterin sagte: "Ja, ja - das ist mir Würst, aber Günter Grass ist ein bisschen unhöflich." Glauben Sie mir: Auf Englisch klingt es überhaupt nicht besser. "Yeah, yeah - that's sausage to me, but Günter Grass is a little impolite."

Nur ein bisschen?

Günter nannte sich "kindlich wie die meisten Schriftsteller". Genau.

Eines Abends in Günters und Utes Haus in Behlendorf sang er - auf Englisch - meinem jüngsten Sohn Everett, der damals erst vier war, ein englisches Kinderlied vor. Ich kann nicht singen, werde es aber versuchen - nur ein bisschen.

"One man went to mow,

went to mow a meadow.

One man and his dog

went to mow a meadow.

Two men went to mow,

went to mow a meadow."

Und so geht es immer weiter - bis zu zehn Hunden.

Eines kalten Wintertags in Wien, an dem sich niemand gern entkleidet hätte, bewarb ich mich an einer Kunstakademie in der Nähe der Ringstraße als Modell für Aktzeichenkurse. "Ich habe Erfahrung, in Amerika", behauptete ich, aber ich wollte Modell werden, weil Oskar Matzerath eins ist. Natürlich war es auch eine Methode, um Mädchen kennenzulernen.

Für immer schuldig gemacht

Erinnern Sie sich an den jüdischen Spielzeughändler in Die Blechtrommel? Er heißt Sigismund Markus und wird von den Nazis gezwungen, Selbstmord zu begehen. Als der Spielzeughändler stirbt, weiß der kleine Oskar, dass der Tag näherrückt, an dem er seine letzte Blechtrommel in Händen hält. Oskar trauert - nicht nur um sich, sondern um den armen Markus und um ein Deutschland, das sich für immer an seinen Juden schuldig gemacht hat.

Das sind Oskars Worte: "Es war einmal ein Spielzeughändler, der hieß Markus und nahm mit sich alles Spielzeug aus dieser Welt."

Ich weiß, wie sich Oskar fühlt. Günter Grass war der König der Spielzeughändler. Jetzt hat er uns verlassen und alles Spielzeug aus dieser Welt mitgenommen. (John Irving, 11.5.2015)