Nur nachhaltig aus den bekannten Erfolgen der Vergangenheit zu schöpfen, ist keine gute Idee, um Führung an gegenwärtige und künftige Heraus- forderungen anzupassen, sagt Personalberater Günther Tengel.

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STANDARD: Die Beschwerden aus vielen Unternehmen in ganz unterschiedlichen Branchen häufen sich: Es werde nichts entschieden. Ist das ein Befund, den Sie teilen?

Tengel: Es treffen zwei völlig verschiedene Mechanismen in den heutigen Unternehmen aufeinander. Viele Führungskräfte - vor allem die jüngeren - fordern neue Werte ein: Vertrauen, Flexibilität, Experimentierfreude und Mut zu Fehlern. Andererseits sind diese Führungskräfte aber täglich angehalten, Kosten einzusparen, Prozesse zu optimieren und Veränderungen mitzutragen - bis zur Selbstaufgabe. Ihr Tag wird bestimmt durch Key-Performance-Indicators und Scorecards. Und Strategien werden quartalsmäßig verändert. Volatilitäten schlagen Pläne. In diesem Umfeld Entscheidungen zu treffen, ist eine Herausforderung.

STANDARD: Das heißt, Führung findet gar nicht mehr statt, weil sie scheinbar nichts bringt?

Tengel: Gemessen werden vor allem operative Ergebnisse. Das operative Tagesgeschäft bietet scheinbar kaum Zeit für Führung. Dabei sind Führung und Leadership die wichtigste Voraussetzung für nachhaltigen Erfolg. Führung braucht Meinung, Haltung und Integrität. Führen wird ja auch kaum gelehrt und gelernt. Gelernt wird Managen. Malik hat einst richtigerweise gesagt: "Die Welt braucht Leader, findet jedoch nur Manager."

STANDARD: Warum reden alle über New Leadership - bloß Ausdruck einer Sehnsucht?

Tengel: Im Innersten wissen alle, dass Leadership nicht durch Management ersetzt werden kann.

Peter Drucker hat schon vor langer Zeit gesagt: "Leadership ist nicht, Leute dazu zu bringen, Dinge zu tun, die sie nicht wollen, sondern Leute dazu zu befähigen, Dinge zu leisten, von denen sie niemals glaubten, sie erzielen zu können." Ja, es geht auch um Sehnsüchte und Glauben. Aber dafür brachen wir alle Vertrauen. Und genau dieses fehlt derzeit an allen Ecken und Enden ...

STANDARD: Und wie kann Vertrauen wieder entstehen? "Herstellen" will man es ja intensiv seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008.

Tengel: Führungskräfte sind die wichtigsten Multiplikatoren, die für Ziele, Leistung, Motivation und damit den Erfolg verantwortlich sind. Führungskräfte benötigen aber auch fachliche Schwerpunkte. Vom Hochschulabschluss zum Generalisten in fünf Jahren funktioniert einfach nicht. Kompetenzen müssen erworben und dann bestmöglich umgesetzt werden - zum Nutzen möglichst aller Stakeholder. Nur das schafft Vertrauen bei den Mitarbeitern.

STANDARD: Schlägt sich das nicht auf die demografische Kurve im Pool der möglichen Führungskräfte nieder?

Tengel: Und wie: Einerseits fehlen in den nächsten zehn Jahren durch den Geburtenknick rund 50.000 30- bis 40-Jährige, also die Zielgruppe der nächsten Generation der Führungskräfte. Und es wächst mit der Generation Y eine Generation heran, die andere Haltungen sowie Prioritäten und damit Bedürfnisse hat. Viele dieser bestens ausgebildeten Jungakademiker wollen nicht wirklich in den derzeitigen Arbeitsmarkt, den sie kritisch sehen, einsteigen. Sie suchen Sinn, Flexibilität, Nachhaltigkeit und eine Umgebung, die ihre Prioritäten versteht. Viele glauben, das in Nonprofit-Organisationen, Start-ups oder in Projekten zu finden - damit gehen sie dem klassischen Arbeitsmarkt verloren.

STANDARD: Vielleicht ja auch ein Ausdruck des Wandels ... Täuscht der Eindruck, dass viele 50-Jährige aus ihren Managementfunktionen gehen oder gegangen werden? Woran liegt das?

Tengel: Hier treffen primär drei Gründe aufeinander: Viele Führungskräfte haben ein generelles Schema ihres Erfolges entwickelt. Sie schöpfen nachhaltig aus der Vergangenheit. Je mehr sich verändert, desto mehr Anstrengung wird aufgewendet, die gleichen Modelle noch schneller und härter anzuwenden. Starke Veränderungen am Markt gehen daher einher mit Veränderungen der Führungskräfte - oder das Management muss getauscht werden. Zweitens: In vielen Managementfunktionen wird der jeweilige Spielraum immer mehr eingegrenzt. Dann wird ein 50-Jähriger durch einen 35-Jährigen ersetzt, der billiger ist und mindestens so gut exekutieren kann. Und dann hat die Flucht begonnen: Immer mehr der 50-Jährigen - natürlich nur die, die es sich leisten können - verlassen den Ort, wo sie Misstrauen spüren und Vertrauen suchen. Sie stellen sich die Sinnfrage. Eine Sinnfrage, die sich übrigens viele Frauen vor der Übernahme einer Top-Managementfunktion stellen.

STANDARD: Und nach sorgfältiger Überlegung dann auch Nein sagen. Wie könnten Führungsaufgaben in klassischer Wirtschaft wieder attraktiv werden?

Tengel: Sie sind ja per se nicht unattraktiv: Nur in immer größeren und globaleren Unternehmen werden Strukturen und Organisationen aufgebaut, die mehr auf Misstrauen und nicht auf Vertrauen ausgerichtet sind. Hinter dem in vielen Unternehmen fast krankhaft instrumentalisierten Performancemanagement steht ja ein massiver Vertrauensverlust. Also der Gedanke, dass ich nur mehr mit extremer Kontrolle sinnvoll führen kann. Und überall die Matrix.

STANDARD: Das Dilemma der Verantwortlichkeit quasi ohne Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum ist ein klassisches Konzernthema ...

Tengel: Ja, deutlich attraktiver erscheint Führung den meisten, die das erlebt haben, in managebaren Größen, in mittelständischen Unternehmen, kleinen Familienunternehmen, in Unternehmen, von denen man annimmt, dass sie Entscheidungen schnell und konsequent treffen.