Olaf Geramanis: "Eine reife Gruppe und ein arbeitsfähiges Team in der heutigen Arbeitswelt haben nichts mit heuchlerischer Kumpanei oder organisiertem Nichtstun zu tun."

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STANDARD: Weshalb ist der Bruch mit dem Hergebrachten unausweichlich?

Geramanis: Weil die Unternehmen von einer Flut an Informationen und Handlungsmöglichkeiten überrollt werden. Die Schere zwischen dem, was Führungskräfte wissen müssten, und dem, was sie mental und emotional verarbeiten können, öffnet sich immer weiter. Das Unverständliche wächst schneller als das Verständliche. Mehr Information führt zu mehr Konfusion, und zu viel Information verwirrt die Entscheidungssysteme. Die Unsicherheit wächst ständig und global. Die traditionelle Struktur und Kultur ist mit den sich daraus ergebenden Ansprüchen überfordert. Für die Diskrepanz zwischen erhöhter Entscheidungsbedürftigkeit einerseits und verminderter Entscheidungssicherheit andererseits muss der Führungsprozess eine Lösung finden.

STANDARD: Wo liegen die Ansatzpunkte dafür?

Geramanis: Erstens handlungsleitend das anzuerkennen, was uns die Systemtheorie bereits vor über 20 Jahren offenbarte: dass wir es in Sachen Führung mit komplexen Systemen zu tun haben. Und zweitens, dass man auf Komplexität mit Komplexität reagieren muss. Deshalb brauchen wir andere Koordinationsmechanismen. Und hier kommt die Gruppendynamik ins Spiel: Was die relative Kalkulierbarkeit in den aktuellen Turbulenzen gewährleistet, sind selbstorganisierte Gruppen und arbeitsfähige Teams, die die überlebensnotwendige Anpassungsfähigkeit nach außen und kommunikative Berechenbarkeit im Innenverhältnis in zahllosen Ausformungen zu kombinieren verstehen.

STANDARD: Weshalb sind diese selbstorganisierten Gruppen das zukünftige Maß der Dinge?

Geramanis: Weil sie mit besonders komplexen Entscheidungslagen und einem hohen Anteil von Nichtwissen umgehen können. Dies ist gerade in riskanten Situationen und solchen Entscheidungslagen wichtig, in denen es neben der sachlichen Qualität und der damit geforderten kollektivierten Intelligenz häufig auch um eine besondere Bindungswirkung bei den beteiligten Personen und Organisationseinheiten geht. Für diese reife Selbstorganisationsfähigkeit von Gruppen steht für mich der Begriff Gruppendynamik.

STANDARD: Was kommt damit auf die Vorgesetzten zu?

Geramanis: Vorgesetzte müssen anerkennen, dass es "die Organisation" in ihrer herkömmlichen Form gar nicht mehr gibt. Die vier klassischen Organisationsprinzipien - Arbeitsteilung, Hierarchie, Kommunikationsvermeidung und Gehorsam - werden gerade aufgeweicht. Der Soziologe Dirk Baecker von der Zeppelin-Universität Friedrichshafen nennt es "Die Wiedereinführung von Kommunikation in die Organisation".

STANDARD: Wo liegt der Hintersinn dieser Aussage?

Geramanis: In dessen katastrophalen Folgen für die Organisation. Weil dadurch eben nichts mehr "organisiert" ist, sondern alles immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Um auf die aktuelle Komplexität zu reagieren, jagt eine Sitzung die nächste. Die Kommunikationsanlässe nehmen explosionsartig zu, was zugleich weitere intensive, stets konfliktbehaftete Verständigungs- und Aushandlungsprozesse nach sich zieht. Wer blauäugig glaubt, dass allein mehr Kommunikation in Organisationen mehr Klarheit schafft und dadurch eine neue Form der Unsicherheitsabsorption bewirkt, irrt. Denn gleichzeitig ist Kommunikation selbst eine ständige Quelle für Irritationen und Konflikte.

STANDARD: Das ruft nach einem Beispiel!

Geramanis: Nehmen wir ein so bekanntes Phänomen wie "die lernende Organisation". Das hört sich doch zunächst enorm positiv an. Ihre Merkmale lauten: bewusster Verzicht auf klare Aufgabenabgrenzung; häufiger Aufgabenwechsel, mehrere Aufgaben pro Person, flexible Budgets, flexible Zusammenstellung von Mitarbeiterteams, Gleichordnung statt Über-/Unterordnung, zeitliche Befristung und zeitlich begrenzte Auflösung von Hierarchien sowie überlappende Verantwortungsbereiche. Was ist dies anderes als das kategorische Ende dessen, was vormals "Organisation" war, und die Initiierung von Chaos!? Zwei weitere Beispiele: Erstens wird von Hierarchie auf Projekt und zweitens von Stelle auf Person umgestellt. Überall dort, wo Organisationen zur Arbeitsform "Projektarbeit" wechseln, gilt Personalisierung anstelle von Bürokratie und Austauschbarkeit. "Projekt" ist die Neuetikettierung von Arbeit, die nicht primär auf die Organisation, sondern auf das personale Netzwerk zurückgreift. Dasselbe gilt für die "Stelle": Stelle und Austauschbarkeit machen einen Unterschied zwischen der Person und ihrer Arbeit.

STANDARD: Welche Auswirkungen hat das alles auf Rollenverständnis und -verhalten von Vorgesetzten?

Geramanis: Sie müssen umdenken, erkennen und berücksichtigen, dass jedes reale System, das nicht rigoros zurückgebunden wird, mehr oder weniger starke Nichtlinearitäten zeigt. Es enthält wesentlich komplexere Zusammenhänge, die zu oft unerwarteten Eigenschaften führen. Was wollen wir unter diesen Umständen beispielsweise unter dem heute so hoch gehandelten "ausschlaggebenden authentischen Vorgesetztenverhalten" verstehen? Meines Erachtens würde ein wenig weniger individueller Narzissmus gut tun.

STANDARD: Aber wie kommt denn das verflixte "authentische Vorgesetztenverhalten" zu seinem prominenten Platz in der Führungsdiskussion?

Geramanis: Weil es nach wie vor unserem tief innewohnenden Kontrollbedürfnis entgegenkommt. Wenn es wirklich "authentisches Vorgesetztenverhalten" gäbe, dann gibt es auch einen Weg dorthin, und wenn ICH dann endlich authentisch bin – dann habe ICH alles richtig gemacht, und damit kann mir niemand mehr einen Vorwurf machen. Was wir in diesem Denken übersehen, ist die Tatsache, dass wir uns in Gruppen und in Beziehung zu anderen Menschen niemals ganz alleine gehören.

STANDARD: Übersetzt ins Führungsgeschehen besagt das?

Geramanis: Gruppen ändern ihre Dynamik mit der wachsenden Zahl ihrer Mitglieder. Das hat einmal damit zu tun, dass wir aufgrund unserer intellektuellen Kapazität nur beschränkt in der Lage sind, komplexe Informationen simultan zu verarbeiten. Zum anderen kostet die Aufrechterhaltung intensiver Beziehungen unsere begrenzte emotionale Energie und Zeit. Anthropologen vermuten, dass Menschen aufgrund ihrer evolutionären Prägung darauf ausgerichtet sind, sich in einer Gruppe von bis zu ungefähr sieben Mitgliedern optimal zu orientieren. Das betrifft die Einschätzung der Beziehungen jedes einzelnen Akteurs zu den Gruppenmitgliedern und der übrigen Beziehungen zwischen ihnen.

STANDARD: Führt die Erwartung an Führung unter den heutigen Bewältigungsbedingungen in die Irre?

Geramanis: Weit darüber hinaus! Die grundsätzliche Erwartung, dass unter dem aktuellen Zustand globaler Ungewissheit überhaupt etwas eindeutig "richtig" oder "falsch" sein könnte, führt in die Irre. Allerdings würde der größte Irrtum darin bestehen, gar nicht mehr zu führen, was sich mancherorten darin zeigt, dass sich Führungskräfte vor allem als freundliche Coachs begreifen, die ihren Mitarbeitern nur noch "prozessorientiert" nachfolgen. Führung ist schlichtweg eine Notwendigkeit - weil Führung immer auch mit Verantwortung zu tun hat, und Verantwortung ist eine genuin soziale Dimension. Dabei geht es keineswegs um die Erfüllung eines moralingetränkten Beziehungsbegriffs: Beziehungen müssen keineswegs jenseits von nützlichen Interessen sein. Die pragmatische Frage darf durchaus lauten: Was bekomme ich dazu? Wie viel von meiner Identität muss ich in einer Kooperation aufgeben? Unter welchen Bedingungen bin ich bereit, klare Regeln, klare Rechte und Pflichten sowie Verbindlichkeiten zu akzeptieren? Eine reife Gruppe und ein arbeitsfähiges Team in der heutigen Arbeitswelt haben nichts mit heuchlerischer Kumpanei oder organisiertem Nichtstun zu tun.

STANDARD: Was macht Gruppen in dem von Ihnen als zukünftig unabdingbar beschriebenen Sinn arbeitsfähig?

Geramanis: Das Geheimnis sind zwei Paradoxien. Erstens ist eine arbeitsfähige Gruppe widersprüchlich. Obwohl Gruppen immer wieder versuchen, einen Gleichgewichtszustand zu erreichen und Unstimmigkeiten zu nivellieren, ist das Ideal der Harmonie - der Auflösung aller problematischen Dynamiken - Antrieb und Tod zugleich. Eine arbeitsfähige Gruppe darf den Widerspruch nicht auflösen, sondern muss permanent zwischen Differenzierung und Integration oszillieren. Die zweite Paradoxie besteht darin, dass der Weg zu einer reifen Gruppe erlernt werden muss, aber nicht gelehrt werden kann, durch ein inhaltliches Wissen, in dem formuliert wäre, was Selbstorganisation in Gruppen ist. Eine derartige Tool-Fixierung muss am impliziten Freiheitsgeschehen der Selbstorganisation zwingend scheitern. Damit eine Gruppe reif wird, muss sie sich selbst aus einem diffusen "Wir-Gefühl" der Gleichmacherei herausentwickeln, sie muss ihre Prozesse und Widersprüche selbst begreifen und steuern können. Damit Gruppen als reife Gruppen inhaltlich arbeiten können, müssen sie sich auf der Beziehungsebene koordinieren - was vormals organisational vorgegeben war. Das ist harte Arbeit und braucht Zeit. (Hartmut Volk, 30.5.2015)