Sex ist ein integraler Bestandteil vieler Beziehungen, dennoch fällt gerade in Spielen der Umgang damit oft hochgradig verschämt aus. Die "Sims" verkriechen sich zum gemeinsamen "WooHoo" unter ihren Bettdecken, zaghaft inszenierte Sexszenen in Sci-Fi-Szenarien gelten als skandalös. Warum bloß?

Sex ist überall

Die meisten Menschen haben zeit ihres Lebens immer wieder mal Sex. Sex ist überall präsent: auf Litfaßsäulen, Leinwänden und Youtube, in Musikvideos und Kunstmuseen, in Popsongs und Buchläden und natürlich im Fernsehen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Wirft man allerdings einen Blick auf die Videospielhistorie, fällt schnell auf, dass Sex darin eine allenfalls untergeordnete Rolle spielt und, wenn überhaupt, im Rahmen von Skandalen thematisiert wird.

Dabei hält er schon früh Einzug in das Medium. Als Pionier des digitalen Geschlechtsverkehrs gilt das 1981 veröffentlichte "Softporn Adventure" der Firma Sierra On-Line, bekannt auch wegen seines Covers, für das Entwicklerkoryphäe Roberta Williams mit zwei ihrer Kolleginnen nackt in einen Whirlpool steigt. Wenngleich relativ bieder, ist das Spiel zu diesem Zeitpunkt ein Novum. Ein glückloser Mann begibt sich darin auf die Suche nach einer Partnerin, mit der er den Beischlaf vollziehen kann – ein Plot, der später auch als Blaupause für die berühmte "Leisure Suit Larry"-Reihe herhält. Das allererste Mal zieht dessen Protagonist Larry Laffer 1987 aus, um seine Jungfräulichkeit zu verlieren. Das Spiel mit dem mäßig attraktiven Schwerenöter im weißen Polyesteranzug bietet damals einen zwar oberflächlichen, aber immerhin humorvollen Zugang zum Thema Sexualität, der aufgrund seiner Leichtigkeit auch verklemmtere Menschen anspricht.

Foto: Leisure Suit Larry Love for Sail

Ihm folgt eine Reihe von Spielen der immer gleichen Machart. Die Hauptrolle ist in der Regel einem heterosexuellen Mann vorbehalten, bedient werden daher auch die mutmaßlichen Vorlieben der entsprechenden Zielgruppe: Schlanke, großbusige Grazien räkeln sich leichtbekleidet vor den Augen des Helden, die meisten von ihnen sind stark geschminkt und tragen hochhackige Schuhe. Vor allem der C64 etabliert sich schnell als Tummelplatz für entsprechende Inhalte: Unter ihnen findet sich auch ein Titel aus Deutschland, der zwei minderjährigen Jungs die zweifelhafte Ehre verschafft, ein Spiel programmiert zu haben, das in den Giftschrank der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften Einzug hält. Analog zu den virtuellen Sportereignissen, die es parodieren soll, präsentiert sich "Sex Games" als klassisches "Rüttelspiel", dem wohl mehr Joysticks denn zarte Gemüter zum Opfer fallen. Dargestellt wird die Penetration als variantenloses Stochern, der Frau bleibt hier lediglich die passive Rolle.

Abweichungen von letzterem Prinzip gab und gibt es vergleichsweise wenige. Einerseits wohl, weil das Medium immer noch als Männerdomäne wahrgenommen wird, andererseits, weil bis heute oft behauptet wird, Pornografie sei Männersache und für Frauen uninteressant.

Intimität und Passivität

Die überschaubaren Ausnahmen bestätigen die Regel und sind nicht mehr als Randnotizen, so auch Koeis "Night Life", das 1982 ein sehr progressives Verständnis von Sex demonstriert. Der spielbare Beziehungsratgeber enthält neben zahlreichen, schlicht bebilderten Sextipps auch einen Kalender, mit dem der weibliche Zyklus festgehalten und der Eisprung bestimmt werden kann. Generell zeichnet sich in Japan bereits früh ein offenerer Umgang mit zumindest einer abstrahierten Darstellung von Sexualität in den Medien ab, der zunächst die Manga-Kultur und später auch das Videospiel prägt. Mit den sogenannten "Eroge" (Erotic games) entsteht ein eigener Wirtschaftszweig, der die gesamte Genre-Bandbreite in sich vereint. So unterschiedlich die Spiele selbst auch sind – gemeinsam ist ihnen ein erotischer oder sogar pornografischer Schwerpunkt, der sich vor allem auf einer visuellen und narrativen Ebene zeigt. Letzteres gilt insbesondere für die bis heute populären Dating-Sims, in denen der Geschlechtsakt oft als Ziel präsentiert wird, das aber nur durch sorgsam aufgebaute Beziehungen zu den jeweiligen Charakteren erreicht werden kann. Allerdings wird diese positive Innovation von rückständigen Rollenbildern überschattet: Die Frauen bleiben hier meist passiv, warten auf die Initiative des Protagonisten und reagieren auf seine Avancen, anstatt selbst den ersten Schritt zu wagen.

Foto: Duke Nukem

Der Körper als Ware

In den USA wird dieses Prinzip Mitte der 80er-Jahre auf die Spitze getrieben und mit "MacPlaymate" einer der ersten Vertreter der beliebten "Poke the Doll"-Spiele vorgestellt. Darin gilt es, eine oder mehrere Frauen durch die Nutzung verschiedener Sexspielzeuge oder simulierter Hände sexuell zu befriedigen und schließlich zum Höhepunkt zu bringen. Der Geschlechtsakt beschränkt sich auf das ungeschickte Befummeln eines hakelig animierten 2D-Körpers, der Orgasmus wird als ein, im wahrsten Sinne, spielend leicht erreichbarer Zustand präsentiert. Körperliche Nähe fehlt vollständig. Voyeuristische Tendenzen nehmen immer mehr zu und mit ihnen die Einbindung nackter Körper in Kontexte, die mit Sex eigentlich wenig zu tun haben. Dem Prinzip "sex sells" folgend, werden damals nicht nur altbekannte und uninspirierte Spielmechaniken in Reizwäsche gewickelt, sondern auch Titel ohne explizite sexuelle Bezüge offensiv mit nackter Haut beworben. Wem beim Genuss von "Tetris" und "Puzzle Bobble" die Libido zu kurz kommt, kann sich nun an den "Bubble Bath Babes" erfreuen, statt "Solitaire" "Samantha Fox Strip Poker" spielen, und in "Gals Panic" Bilder schüchtern dreinblickender Japanerinnen freipuzzeln. Die Inspiration für Werbeannoncen wiederum scheint den unfreiwillig komisch-erotischen Heimcomputeranzeigen in Garagen zusammengestanzter Technikmagazine zu entspringen: Spiele und Konsolen werden mit an Betten gefesselten, aufreizend posierenden und mal mehr, mal weniger spärlich bekleideten Frauen beworben.

Rollende Köpfe, wackelnde Bettpfosten

Paradoxerweise wird derweil immer deutlicher, dass explizit sexuelle Inhalte nicht erwünscht sind. Die Konsolenhersteller, allen voran Nintendo und Sega, führen strenge Qualitätskontrollen ein, die vielfach in Zensur münden. Nacktheit ist verpönt, wenn sie nicht in erster Linie dazu dient, ein Produkt zu vermarkten. So wird sichergestellt, dass die Lust zwar geweckt, aber niemals befriedigt wird. Seither, so scheint es, hat sich nicht viel geändert. Allerorten sind, ungeachtet der anhaltenden Diskussionen über die Rolle der Frau im Spiel, üppige Damen zu sehen, die nicht selten explizit als erotische Stimuli konzipiert werden. Serien wie "Duke Nukem" oder "God of War" stellen ihren drastischen Gewaltdarbietungen eine inszenierte Sexualität gegenüber, die hochgradig pubertär und oberflächlich wirkt. Dass die Kamera Kratos‘ Blutrausch en détail einfängt, bei jeder der abrupt einsetzenden Sexszenen jedoch verschämt auf im Rhythmus des Geschlechtsaktes wackelnde Haushaltsgegenstände schwenkt, verdeutlicht ein moralisches Ungleichgewicht, das Gewalt toleriert und Sex ablehnt.

Foto: God of War Ascension

Kalter Kaffee

Besonders deutlich wird dies im Jahr 2005, als ein Niederländer einige ungenutzte Zeilen Programmcode in "GTA: San Andreas" offenlegt und mit seiner "Hot Coffee"-Mod ein Minispiel freischaltet. Im regulären Spielverlauf nicht zugänglich, zeigt es den Protagonisten und seine Freundin beim Sex: Beide sind bekleidet, bewegen sich ungeschickt und wiederholen in einer Endlosschleife wenige Dirty-Talk-Phrasen, die kaum einem Menschen die Schamesröte ins Gesicht treiben würden – zumindest niemandem, der ab und an den Fernseher einschaltet. Nichts daran ist pornografisch, kein sekundäres und erst recht kein primäres Geschlechtsorgan ist zu sehen. Doch allein die Möglichkeit, per Tastendruck Einfluss auf das ekstatische Geschehen nehmen zu können, erhitzt die Gemüter derartig, dass sich später selbst Hillary Clinton zu dem Skandal äußert. "GTA: San Andreas" darf erst wieder frei verkauft werden, nachdem die Codefragmente aus dem Spiel getilgt sind. Sex mit Prostituierten und der gewaltsame Umgang mit ihnen ist weiterhin möglich, ein offen sexueller Kontakt zur eigenen Partnerin dagegen nicht mehr. Was für die meisten Menschen alltäglich ist, bleibt hier weiter hinter dicken Wänden verborgen: Nichts ist zu sehen von Cunnilingus, Fellatio, Koitus und Ejakulation. Der Sexakt wird lediglich angedeutet – durch Geräusche. Auch Biowares "Mass Effect", vielfach gelobt für seinen vergleichsweise einfühlsamen Umgang mit Romantik und die Möglichkeit, gleichgeschlechtliche Beziehungen sowie Partnerschaften mit Außerirdischen einzugehen, wird scharf kritisiert. Der US-amerikanische Sender FOX News stuft den Titel als schädlich für die Jugend ein, dabei zeigt das Spiel erst nach vielen Stunden Sexzenen, in denen nicht mehr zu sehen ist als nackte Rücken und angedeutete Brüste.

Do not try this at home

Dass solche Reaktionen zuverlässig immer dann auftreten, wenn Sexualität in ein explizit positives Licht gerückt wird, lässt auf eine Furcht schließen, die in vielen Gesellschaften fest verankert ist und im Spiel besonders deutlich hervortritt. Denn die für das Medium charakteristische Interaktivität ermöglicht eine Identifikation mit dem Gezeigten, die dem passiveren Konsum etwa eines Films nicht zu eigen ist. Und erst recht nicht erwünscht, weil Spiele immer noch vielfach als Kinderkram gelten, der entsprechend konzipiert gehört. Sexuelle Instinkte werden als bedrohlich wahrgenommen, nackte Körper durch ihre automatische Gleichsetzung mit Erotik tabuisiert. Diese sexuelle Verspannung manifestiert sich dann in Pixelbalken über den schlaksigen Leibern duschender Sims. Die tägliche Körperpflege wird im Computerspiel zu einem erotischen Akt hochstilisiert und der Geschlechtsverkehr zugleich auf eine Weise präsentiert, die selbst Grundschülern infantil vorkommen würde. Das ist umso problematischer in Zeiten, in denen zentralisierten Distributionsplattformen eine immer wichtigere Rolle bei der Vermarktung zukommt und der Zugang zu einzelnen Titeln rigide eingegrenzt werden kann. Spiele wie "Seduce Me" und zuletzt auch die homoerotische Dating-Simulation "Coming Out On Top" werden etwa auf Steam keinem größeren Publikum zugänglich gemacht, drastische Darstellungen von Gewalt hingegen durchaus. Einerseits deshalb, andererseits aufgrund der Schwierigkeit, eine so komplexe Angelegenheit wie Sex in eine einfache Spielmechanik zu übertragen, überrascht der Mangel an spannenden Titeln mit einem entsprechenden Schwerpunkt nicht. Pornospiele existieren zwar, bilden allerdings ihre eigene, kleine Nische in der Branche und visualisieren ein ebenso eng gefasstes Interessensspektrum. Die "Poke The Doll"-Spiele mögen sich grafisch weiterentwickelt haben, spielmechanisch sind sie immer noch das Äquivalent einer siebtklassigen Pornoproduktion vom Videotheken-Grabbeltisch. In den letzten 30 Jahren hat sich in dieser Hinsicht kaum etwas getan.

Foto: Coming Out On Top

Die sexuelle Revolution

Glücklicherweise zeichnet sich dennoch eine positive Entwicklung ab. "Coming Out On Top" wird wohl nie jene Verkaufszahlen erreichen, die ihm Steam ermöglicht hätte, genießt aber derzeit viel Zuspruch – gerade auch von homosexuellen Männern, die nach eigener Aussage durch das Spiel zu einer positiveren Selbstwahrnehmung gelangt sind. Überhaupt hat sich die Indie-Szene als sexuelle Spielwiese etabliert und ermöglicht nicht nur einen unaufgeregteren Umgang mit Sex, sondern vor allem Einblicke in seine unterschiedlichen Facetten. Menschen wie Merrit Kopas ("Consensual Torture Simulator"), Robert Yang ("Hurt Me Plenty") und Anna Anthropy ("Encyclopedia Fuckme", "Triad") zeichnen ein Bild von Sexualität, das mit der allgegenwärtigen Hochglanzerotik nichts mehr zu tun hat und stattdessen als regenbogenfarbenes Patchworkgemälde daherkommt. Die Entwickler_innen wenden sich vielfach wieder von den technischen Neuerungen der letzten Jahre ab, um simpel strukturierte, aber durch den sich bietenden Raum für Fantasie umso anregendere Erlebnisse zu ermöglichen. Nicht ohne Grund haben auch Cybersex und Sexting nach wie vor Hochkonjunktur: Ausgefeilte Grafiken mögen schön anzusehen sein, stellen jedoch eine Einschränkung dar. Bestimmte Schönheitsideale werden bedient, Sexpraktiken auf eine spezifische Weise dargestellt. Textbasierter Sex weist daher ein ungeheures Potenzial auf, erotisch zu stimulieren, denn er ist extrem zugänglich und vielfältig interpretierbar.

Während die sexuelle Revolution im verklemmten Triple-A-Kirchenchor noch auf sich warten lässt, werden daher auch weiterhin unermüdlich MMORPG-Chats gekapert und immer mehr hocherotische Twine-Spiele veröffentlicht, die über die brancheninterne Prüderie hinwegtrösten. Denn Wünsche und Sehnsüchte lassen sich nicht einfach zensieren, sondern werden immer wieder ein Schlupfloch finden. Und das Schöne ist: Aus vielen dieser simplen Spiele dringt mehr Liebe zum Medium und zum menschlichen Körper als jemals zuvor. (Nina Kiel, Text aus WASD #7 für DER STANDARD, 7.6.2015)