Sidonie Grünwald- Zerkowitz prangerte die "doppelte Geschlechtsmoral" der damaligen Zeit an.

Foto: Josef Szekely / Ullstein Bild

Übersetzerin, Autorin und beinahe Schauspielerin: Die Berufsbiografie der 1852 in Tobitschau (Mähren) geborenen Sidonie Zerkowitz ist sehr ungewöhnlich für jene Zeit. Nach Privatunterricht durch ihren Vater, einen jüdischen Arzt, brachte sie sich im Selbststudium Italienisch, Tschechisch und Englisch bei. Nach nur einem Jahr Französischunterricht in Wien unterrichtete sie selbst in Holleschau diese Sprache.

Ihr ungewöhnliches Sprachtalent ermöglichte es ihr auch, innerhalb kürzester Zeit Ungarisch zu lernen und auch dafür bald die Lehrbefähigung zu erhalten. Sie lebte und unterrichtete, damals erst 15 Jahre alt, in Budapest, schrieb Gedichte, Essays und pädagogische Artikel und erregte in Schrift-stellerkreisen große Aufmerksamkeit.

Einen Heiratsantrag des Dichters Coloman Tóth lehnte sie ab. Nicht aber jenen des griechischen Fürsten Kolokotronis. Diesen hatte sie am Hof König Ludwigs II. von Bayern kennengelernt. Der hatte die junge Frau im Jahr 1874 eigens zu sich nach München zu einer Probedeklaration ans Hoftheater eingeladen. Diese war angeblich glänzend ausgefallen, allein der Karriere als Schauspielerin trat besagter Fürst Kolokotronis entgegen, der Sidonie vom Fleck weg heiraten wollte und dies nach wenigen Wochen in Venedig tat.

Scheidung und Vernunftehe

Zuvor war Sidonie konvertiert, geheiratet wurde in der Markuskirche. Ob es Liebe war oder der Wunsch nach materieller Sicherheit, lässt sich schwer sagen: Beides wurde enttäuscht. Noch vor der Geburt des gemeinsamen Sohnes kehrte Sidonie zu ihren Eltern nach Holleschau zurück.

Die finanzielle Lage war schwierig. Also ging sie nach erfolgter Scheidung bald eine Vernunftehe mit dem Kaufmann Leopold Grünwald in Wien ein, einem Witwer mit vier Kindern, der versprach, das ihre zu versorgen und die Eltern gleich dazu. 1877 wurde geheiratet, Sidonie gebar ihrem zweiten Mann drei Buben und zwei Mädchen.

Gezähmt wurde sie durch das Familienleben nicht: 1886 veröffentlichte sie die Lieder der Mormonin, 1890 Das Gretchen von heute, beide durch die ungewöhnlich offenherzige Schilderung auch körperlicher Liebe ein veritabler Skandal. Für den zuständigen Staatsanwalt jedenfalls war die "sinnberückende Darstellung der erotischen Leidenschaft" zu viel.

"Doppelte Geschlechtsmoral"

Das Gretchen, Sinnbild für die Nöte mittelloser Mädchen, wurde verboten. Sidonie prangerte darin die "doppelte Geschlechtsmoral" der damaligen Zeit an, die den Männern "Liebeleien" vor ihrer standesgemäßen Vernunftheirat erlaubte, die betroffenen Frauen aus einfachen Gesellschaftsschichten aber moralisch verdammte.

Auch als Herausgeberin der Zeit- schrift La Mode, einer leicht adaptierten, deutschen Übersetzung des Pariser Vorbildes, erregte Sidonie Grünwald-Zerkowitz in Wien Aufsehen. Schon früh setzte sie sich, die Individualistin, darin für Individualität in der Mode ein. Sie starb mit nur 55 Jahren als Witwe in Karlsbad. (Tanja Paar, 7.6.2015)